Begegnung

Die literarische Blondine

Amanda Sthers trägt kurze Shorts, eine durchsichtige Bluse und Ballerinas, als sie an einem späten Vormittag in die Lounge des Pariser Luxushotels Lutétia hereinspaziert. Sie lässt ihre Tasche lässig zu Boden gleiten und bestellt grünen Tee. Im Lutétia residierte im Zweiten Weltkrieg die deutsche Kommandatur bis zur Befreiung von Paris im August 1944.

Nur Monate später kamen erste Überlebende der Konzentrationslager im Hotel an. Sie blieben dort, bis man Verwandte gefunden hatte. Die Entscheidung, sich mit mir ausgerechnet im Lutétia zu treffen, sei aber nicht symbolisch, sagt Sthers, sondern habe praktische Gründe. In ihrer nahe gelegenen Wohnung stapeln sich die Kartons. Demnächst zieht sie mit ihren zwei Söhnen und ihrer neuen Liebe, dem französischen Rocksänger Sinclair, um.

pseudonym Kennengelernt haben sie sich, als Sinclair 2009 die Musik für Sthers Spielfilm Je vais te manquer komponierte. Gerade hat das Paar gemeinsam ein Musical für Kinder geschrieben. Im Oktober wird Lili Lampion im Théâtre de Paris uraufgeführt. Vor Sinclair war Sthers mit Patrick Bruel liiert. 2004 hatte sie den 20 Jahre älteren, wie ihr Vater aus einer tunesisch-jüdischen Familie stammenden Schauspieler und Chansonnier geheiratet. Wo die beiden auftraten, blitzten die Kameras. Als sich das Traumpaar der Society-Blätter 2007 trennte, war Amanda 29.

Patrick Bruel heißt eigentlich Maurice Benguigui. Auch Amanda Sthers ist ein Künstlername. Geboren wurde sie als Amanda Queffélec-Maruani, Tochter eines gefragten Pariser Psychoanalytikers. Ihre jüngere Schwester Orianne ist Rocksängerin, Bruder Briagh arbeitet als Musikjournalist, die Tante ist eine berühmte Pianistin und ihr Onkel der bekannte Romancier Yann Queffélec. Deshalb legte sich Amanda, als sie 2004 ihr erstes Buch veröffentlichte ein Pseudonym zu: Sthers – eine versteckte Reverenz an ihre geliebte Großmutter Esther.

Ma place sur la photo hieß der autobiografische Roman. Sthers Mutter, eine katholisch erzogene Rechtsanwältin aus der Bretagne, war zum Judentum konvertiert, um Amandas Vater heiraten zu können. Der verließ seine Frau, als die drei Kinder noch klein waren. Diese einschneidende Erfahrung arbeitete Sthers in ihrem literarischen Debüt ab. Heute lacht sie über ihr Selbstporträt. Als pathetisch, schwermütig und verschlossen, ein um Anerkennung buhlendes Mädchen, das sich willenlos treiben ließ, so hatte sie sich dargestellt.

wahre geschichten Ma place sur la photo war ein Achtungserfolg. Den Durchbruch brachte zwei Jahre später der Theatermonolog Le vieux juif blond (Der alte blonde Jude). Das Stück ist eine Art Dybbuk-Drama. Der Geist eines 77 Jahre alten jüdischen Mannes fährt in den Körper einer blonden 20-Jährigen, die sich plötzlich nicht nur mit Altersbeschwerden herumschlagen muss, sondern auch mit Erinnerungen an das KZ.

2006 erscheint auch der Roman Die Geisterstraße, der in zehn Sprachen übersetzt wurde. Er erzählt von zwei alten Männern in Kabul, einem Schuster und einem Schreiber, die sich nicht ausstehen können. Sie kommen nur am Schabbat und zu den Festtagen zusammen, weil sie die letzten Juden der afghanischen Hauptstadt sind. Dann sitzen sie und »beten mit geschlossenen Augen, um sich glauben zu machen, sie seien in einer Synagoge, gefüllt mit mindestens acht weiteren Juden«.

Der Roman verknüpft die Geschichte der beiden Männer mit dem Schicksal einer jungen Afghanin, die von einem amerikanischen Soldaten geschwängert wurde. Sie ist todgeweiht, ebenso wie einer der Juden, bei dem die junge Frau Zuflucht sucht. Den anderen macht der Roman zum Erzähler der Geschichte und schickt ihn nach Amerika, wo er den Ex-Soldaten mit den Folgen seines Sex-Abenteuers konfrontiert.

schweinezucht Die Geschichte der zwei letzten Juden von Kabul hat Sthers aus der Zeitung. Auch ihr neuer Roman Schweine züchten in Nazareth, der diese Woche auf Deutsch erscheint, beruht auf einer Nachrichtenmeldung. In der New York Times hatte die Autorin gelesen, dass man in Israel begonnen habe, Schweine zu dressieren, die wie Spürhunde die Fährten von Terroristen aufnehmen sollen.

Die Vorstellung, dass ein Zahal-Soldat ein Schwein an der Leine führt, habe sie zum Lachen gebracht, sagt Sthers: die ganze Absurdität des Nahostkonflikts kristallisiere sich in diesem lächerlich-ernsten Bild. Aus der Zeitungsgeschichte hat sie einen witzigen Briefroman (einschließlich E-Mails) gemacht. Im Mittelpunkt steht Harry, ein Pariser Kardiologe in der Midlife-Crisis, der Alija macht, um im Heiligen Land eine Schweinezuchtfarm aufzumachen – wobei die Ställe auf Stelzen stehen, damit die treifen Borstentiere nicht heiligen Boden berühren (Les terres saintes – Heiliges Land oder heiliger Boden, heißt der Roman im französischen Original).

Sehr schnell erfährt der Leser, dass Harrys Ausreise nach Israel auch eine Flucht vor seiner Familie ist – der aggressiven geschiedenen Frau, dem schwulen Sohn und der Tochter, die sich immer nur in ältere, verheiratete Männer verliebt.

Erfolg 33 Jahre alt ist Amanda Sthers und hat bereits mehr produziert als manche anderen Autoren in ihrem ganzen Leben – und das in einer verblüffenden Vielfalt: Romane, Kinderbücher, Theaterstücke, Sketche, Kurzfilme, Spielfilme, Musicals, Chansontexte, Biografien. Sie schreibt schnell. Die Vorstellung, einmal auch an einem Text zu scheitern, kümmert sie nicht. Vielleicht muss man den Schlüssel zu ihrem Erfolg in den vielen kleinen Mutproben suchen, die Amandas Vater, der weitsichtige Psychologe, ihr früh zumutete: zum Beispiel im Schlafzug den Boulevard entlangzuschlendern und Briefe zur Post zu tragen.

Die Vorstellung, dass sie dabei jemandem aus ihrer Schule begegnen könnte, habe sie damals wirklich gepeinigt, erinnert sie sich. Doch der Vater schaute seiner Tochter vom Balkon aus nach und rief fröhlich: »Du bist frei! Lauf! Was scheren dich die anderen!« Er, ein eigentlich komplizierter Mensch, sei es auch gewesen, der ihr beibrachte, die Dinge nicht so schwerzunehmen: »C’est pas si grave, quoi!« – »Siehst du, war gar nicht so schwer!« Diese Lektion gibt Amanda Sthers nun an ihre Söhne Oscar und Léon weiter, leichten Herzens und mit einem ansteckenden Lachen.

Amanda Sthers: »Schweine züchten in Nazareth«. Übersetzt von Karin Ehrhard. Luchterhand, München 2011, 192 S., 16,99 €

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025