Wuligers Woche

Die heilige Hannah

Hannah Arendt Foto: dpa

Wuligers Woche

Die heilige Hannah

Warum die Philosophin der Deutschen liebste Jüdin ist

von Michael Wuliger  28.05.2020 09:54 Uhr

»Warst du schon in der Hannah-Arendt-Ausstellung?« Dreimal haben mich das (nichtjüdische) Bekannte dieser Tage gefragt und erzählt, dass der Besuch dieser Schau zum Ersten gehörte, was sie sofort nach den Corona-Lockerungen getan haben – manche sogar noch, bevor sie wieder in ein Restaurant gegangen sind.

Hannah Arendt fasziniert die Deutschen. So viele Fans wie hier hat sie wahrscheinlich nirgends sonst. Fast zu jeder Buchmesse erscheinen Bände mit bislang unbekannten Aufsätzen oder Neueditionen ihrer Werke, von denen es viele in die Bestsellerlisten schaffen.

Hinzu kommen ständig frische Biografien und Studien über die Philosophin. Das legendäre Fernsehinterview, das Günter Gaus 1964 mit Arendt führte, gehört zum kulturellen Kanon der Bundesrepublik. Zu solcher Popularität als Jude hat es neben ihr hierzulande nur Ephraim Kishon gebracht.

KUNSTFIGUR Dabei mochte Hannah Arendt die Deutschen nicht besonders. »Gefühlsmangel, Herzlosigkeit, billige Rührseligkeit« attestierte sie ihren ehemaligen Landsleuten 1950 in dem Essay »Besuch in Deutschland«, eine »tief verwurzelte, hartnäckige und gelegentlich brutale Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen«, die »Unfähigkeit und der Widerwille, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden«.

Die Schwärmerei hat wenig mit Person und Werk der Denkerin zu tun.

Der Liebe tut das keinen Abbruch. Zumal die meisten ihrer Verehrer diese und ähnliche Zitate vermutlich überhaupt nicht kennen. Die Hannah Arendt, der sie huldigen, ist eine Kunstfigur: Die deutsche Jüdin als Verkörperung des bildungsbürgerlichen Ideals, belesen, klug und urteilsstark, dazu noch romantisch involviert mit ihrem Professor, dem späteren Nazi. Ein Stoff, wie von Rosamunde Pilcher ersonnen.

PROPHETIN Noch gefeierter ist Hannah Arendt als Prophetin einer universellen Moral – vor allem, wenn sie sich damit in Gegensatz zu anderen Juden bringen lässt. Fast zur Karikatur geronnen ist das in Margarethe von Trottas Biopic von 2012, wo der weltoffenen, humanistischen Lichtgestalt Arendt der engstirnige jüdisch-partikularistische Hans Jonas entgegengestellt wird.

Dabei hatte Arendt für die deutsche Neigung, konkrete Geschichte, vor allem die eigene, mit dem Sirup eines abstrakten Hypermoralismus zu übergießen, wenig übrig: »Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.«

KRONZEUGIN Gelegentlich wird die Philosophin auch gern als Kronzeugin gegen Israel zitiert. Passende Sätze finden sich bei ihr tatsächlich. Allerdings auch andere, die jeder zionistische Rechte sofort unterschreiben würde: »Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude wehren. Nicht als Deutscher, nicht als Weltbürger, nicht als Verteidiger der Menschenrechte.«

Die Schwärmerei für Hannah Arendt hat wenig mit Person und Werk der Denkerin zu tun. Sie ist die Projektion deutscher Sehnsüchte. Hannah Arendt hat daran keine Schuld. Sie ist ein Star. Stars können nichts für ihre Fans.

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025