Essay

Die Fähigkeit zur Erfahrung

Menschen werden zu »ausführenden Organen«: Theodor W. Adorno Foto: dpa

»Vielleicht sind manche unter Ihnen, die mich fragen werden …, wie ich nun über die Zukunft des Rechtsradikalismus denke. Ich halte diese Frage für falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens, die solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturkatastrophen …, da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet, es steckt darin ein schlecht zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit.«

Dieses Zitat stammt aus dem kürzlich publizierten Vortrag Theodor W. Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« von 1967. Thematischer Dreh- und Angelpunkt des Vortrags war der Aufstieg der NPD in der Bundesrepublik. Adorno untersuchte die Themen, Taktiken und Strategien des neuen Rechtsradikalismus, um seine Weltanschauungen zu verbreiten.

Adorno Wer Adornos Vortrag heute liest, fühlt sich auf aktuelle Entwicklungen verwiesen. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien kommt in den Sinn, ebenso wie eine Verrohung der politischen Kultur, die zunehmend von Agitation, Ressentiment und Dezivilisierung geprägt ist.

Diese Verrohung des Diskurses spielt zusammen mit einer hasserfüllten Gewaltbereitschaft, die denn auch verstärkt in Gewalttaten mündet. Adorno forderte damals, dass man über das »schlecht zuschauerhafte Verhältnis« hinausgehen müsse. Dies ist auch heute angezeigt, was erforderlich macht, das Verhältnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit und politischer Subjektkonstitution zu analysieren.

Mit dieser Aufgabe steht man unmittelbar im Feld der Erziehungswissenschaft; denn sie befasst sich zentral mit der Frage von Subjektbildungsprozessen und wie diese angesichts spezifischer gesellschaftlicher, politischer und kultureller Bedingungsgefüge verlaufen. Dass zur Bewältigung dieser Aufgabe die Arbeiten von Adorno weiterführend sind, wird ersichtlich, wenn man die Nähe von Adornos Rechtsradikalismus-Vortrag zu seinen publizistischen Beiträgen der 60er-Jahre wahrnimmt, die um das Thema einer »Erziehung zur Mündigkeit« kreisen.

Die Verrohung des Diskurses spielt zusammen mit einer hasserfüllten Gewaltbereitschaft, die denn auch verstärkt in Gewalttaten mündet.

Zu diesen Beiträgen gehört auch der im April 1966 im Hessischen Rundfunk ausgestrahlte Vortrag »Erziehung nach Auschwitz«. Beide haben enge Bezüge zu den Studien zum autoritären Charakter, und mein Beitrag zielt darauf, mit diesen Bezügen bis heute bestehende antidemokratische und autoritäre Haltungen zu untersuchen und die Konsequenzen für die Pädagogik zu markieren.

VERWEIGERUNG Adornos Vortrag »Erziehung nach Auschwitz« beginnt mit dem viel zitierten Satz, dass die allererste Forderung an Erziehung die sei, dass Auschwitz nicht noch einmal sei. Dass diese Forderung wenig erschlossen war, lässt sich an den Anfängen der politischen Bildung seit 1949 belegen: Es bestand eine doppelte Verweigerung, da weder die NS-Verbrechen selbst thematisiert noch jene Reflexionsanstrengungen unternommen wurden, um zu erschließen, was diese Verbrechen ermöglicht hatte.

Es dominierte ein nationales und kulturelles Selbstbewusstsein, wie sich beispielhaft an den Reaktionen auf die sogenannte »antisemitische Schmierwelle« zeigen lässt: eine Häufung von Friedhofs- und Synagogenschändungen sowie antisemitische öffentliche Äußerungen im Zeitraum 1959/60. In Sorge um das Ansehen der Bundesrepublik wurde bestritten, dass es in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nach wie vor Antisemitismus gab.

Der öffentliche Diskurs verlegte sich mit Verweis auf das mutmaßlich jugendliche Alter der Urheber auf eine Pädagogisierung der Vorfälle. Dies stellte eine symbolische Verschiebung des Problems auf die nachwachsende, sozusagen »unaufgeklärte« Generation dar.

Die sozialen Medien verändern unser Welt- und Selbstverständnis.

Ein weiterer Aspekt einer »Erziehung nach Auschwitz« stellt die Kritik an einer autoritätsgebundenen Kultur und Gesellschaft dar. Auch dieser Aspekt lässt sich auf den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus und Autoritarismus in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft beziehen. Adorno macht in seinen Ausführungen deutlich, dass eine »wahnhafte Realpolitik« nicht nur bei Nazischergen wie Höß oder Eichmann aufzufinden ist, sondern auch die Gesellschaft und Kultur der Gegenwart betrifft.

Das Tätigsein der Menschen vollzieht sich über weite Strecken, ohne dass es zu einer Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit und Zustimmungsfähigkeit des eigenen Tuns kommt. Adorno bezeichnet dies als Zwang zur Anpassung, und genau das ist es, was den autoritären Charakter ausmacht. An den Ausführungen zur Technisierung der Lebensverhältnisse lässt sich plausibilisieren, wie sich Adorno dies vorstellt.

TECHNIK Der Einsatz von Technik hat laut Adorno etwas Pathogenes: »Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten.« Die Menschen legen ihren Subjektstatus ab, um sich in den technischen Apparat einzufügen. Adorno beschreibt die Überwertung der Technik, »die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen passiert«.

Zu einem Teil des technischen Apparates zu werden, stiftet im Sinne der positiven Funktionserfüllung eine Identität im Rahmen des kollektiven Gesamtprojekts, bei gleichzeitiger Entlastung, das gemeinsame Handeln hinsichtlich seiner Legitimität zu befragen. Wo gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu einer Verdinglichung und Erfahrungsunfähigkeit führen, wie dies im Kontext von Technisierung der Fall ist, können sich autoritäre Haltungen und Tätigkeitsmuster etablieren.

Wie nun kann erziehungs- und bildungstheoretisch an Adorno angeschlossen werden? Erziehungswissenschaft hat genau dort kritisch einzusetzen, wo sich eine gesellschaftlich bedingte Erfahrungsunfähigkeit bildet. Dazu muss zunächst einmal von der verbreiteten Vorstellung Abstand genommen werden, dass sich Aufklärungswissen wie von selbst verbreitet. Die Konfrontation mit einer systematischen und industriell organisierten Ermordung von Millionen von Menschen garantiert nicht den Vollzug von Bildungsprozessen.

Mehr noch: Ohne angemessene Berücksichtigung und Reflexion bestehender gesellschaftlicher Bedingungslagen, institutioneller Strukturen sowie moralischer Erwartungen können Bildungsprozesse scheitern. In den vergangenen Jahren ist im Hinblick auf diese Aufgabe in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern viel geleistet worden.

TWITTER Heute sind Erziehungswissenschaft und Pädagogik gefordert, jene gesellschaftlichen Tendenzen in ihre Überlegungen einzubeziehen, die für die eingangs genannte Verrohung politischer Kultur und den wachsenden Antisemitismus verantwortlich sind. Um diese pädagogische Aufgabe zu umreißen, greife ich abschließend die Veränderungen der Holocaust-Erinnerungskultur in Zeiten von Instagram und Twitter auf. Spätestens seit 2017 gibt es öffentliche Debatten zu Online-Beiträgen und Bildern, die insbesondere Jugendliche mit ihren Smartphones in Mahn- und Gedenkstätten aufnehmen. Es sind die Posen und lächelnden Gesichter von Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen, die Empörung auslösen.

Angesichts des affektgeladenen Diskurses bedarf es heute nicht einmal mehr des Agitators, der seine rhetorischen Tricks zum Einsatz bringt.

Diese Fotos motivierten den deutsch-israelischen Schriftsteller Shahak Shapira zu einer kontrovers diskutierten Netzaktion, bei der er zwölf Selfies mit Fotomaterial aus NS-Vernichtungslagern zusammenschnitt. Ein solches Beispiel verweist unmittelbar auf die gesellschaftlichen Transformationen im Zeichen der Digitalisierung und wirft die Frage auf, wie sich unsere Kultur des Erinnerns wandelt.

Die informationstechnologische Verarbeitung, Speicherung und Zirkulation von Daten beeinflusst, wie wir miteinander in Kontakt treten und wie wir uns relevantes Wissen, etwa über historische Ereignisse, zugänglich machen oder halten. Aus der beschleunigten Zirkulation und Vervielfältigung von Daten resultiert eine Fluidität des Wissens mit dem Effekt, dass traditionelle Gatekeeper wie Bibliotheken, Buchverlage, Bildungseinrichtungen immer weniger über die Relevanz von Wissen im öffentlichen Raum bestimmen. Auf dieser Grundlage kommt es zudem zu einer Verbreitung von Fremdenhass und Antisemitismus.

Soziale Medien Im Rückbezug auf die oben angeführte Technisierung der Lebensverhältnisse resultiert daraus die Frage, in welcher Weise heute der »autoritäre Charakter« mit den Subjektivierungsformen in den Sozialen Medien in Verbindung zu bringen ist. Die Sozialen Medien sind zu einem expansiven Netzwerk von Identitäten, Affekten und Erlebnissen geworden. Sie verändern nicht nur, wie wir miteinander in Kontakt treten, sondern auch, wie wir uns überhaupt als Subjekte verstehen.

Angesichts des affektgeladenen Diskurses bedarf es heute nicht einmal mehr des Agitators, der seine rhetorischen Tricks zum Einsatz bringt, wie Adorno sie in seinem Vortrag über den neuen Rechtsradikalismus beschreibt. Die Verbreitung eines stereotypen Denkens – Autoritarismus und Antisemitismus – findet im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien ideale Bedingungen der Zirkulation. Da dieser affektformierten und affektformierenden Struktur keine Grenzen gesetzt oder diskursive Strukturierung auferlegt sind, kann sich an keiner Stelle eine Bilanzierung oder kritische Gesamtbetrachtung ergeben.

Ressentiments Anhand der jüngsten Studien zum Antisemitismus im Netz (Schwarz-Friesel 2019) lässt sich nachvollziehen, dass die starke Verbreitung antisemitischer Ressentiments durch die kontrollresistente und affektgesteuerte Logik des Internets ermöglicht wird.

Der Verweis auf die Sozialen Medien und den Wandel der öffentlichen Sphäre wird nicht angeführt, um diese kulturkritisch zu beklagen. Die medialen Vermittlungen von Subjektivität und Sozialität bilden vielmehr Einsatzpunkte, denen sich eine »Erziehung nach Auschwitz« heute analytisch annehmen muss. Indem sie diese Analyse selbst zum Gegenstand der pädagogischen Tätigkeit macht, kann sie die hier nur angedeuteten Bedingungen der Erfahrungsunfähigkeit zutage fördern. Das Eingangszitat von Adorno aufgreifend könnten wir damit zu Einsichten gelangen, was unserer Erfahrungsfähigkeit und einer politischen Subjektbildung im Wege steht.

Die Autorin ist Professorin für »Theorie und Geschichte der Erziehung und Bildung« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat »Antisemitismus-Studien und ihre Pädagogischen Konsequenzen« (4.–6. September, Frankfurt/M.) halten wird.

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