Diskurs

»Die Erinnerungsrepublik Deutschland ist zu Ende«

In der Alten Aula hielt Sergey Lagodinsky (r.) die Hochschulrede der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Anschließend nahm Rektor Andreas Brämer (l.) die Fragen aus dem Publikum entgegen. Foto: Philipp Rothe

Nach Auschwitz war klar: Deutschland kann keine »normale« Nation mehr sein. Die Erinnerungsrepublik Deutschland war ein Staat, der sich nicht auf Ruhm gründete – sondern auf Reue. Der Reue für ein Verbrechen, ein Bewusstsein der eigenen kollektiven mörderischen Energie.

Es ist keine heldenhafte Erinnerung wie in anderen Ländern, es ist eine reuige Erinnerung, aus der Deutschland, und somit auch zum Teil Europa, Kraft schöpfen. Und weil die Verbrechen, auf denen diese Neufindung beruht, immer zwei Seiten haben, ist diese reuige Erinnerung immer opferbezogen.

Klassischerweise ist die kollektive Opferseite immer die jüdische Community gewesen. Ob individuell oder kollektiv, ob in Deutschland oder der Dia­spora. Und immer war die Fortsetzung der Erinnerungsarbeit und Erinnerungsbeziehung bis nach Israel selbstverständlich.

Die Kulmination bildete der Umgang mit der Aussage der damaligen Kanzlerin Angela Merkel, die ein Jahr vor ihrer eigenen Heidelberger Hochschulrede, also 2008, vor der Knesset in Jerusalem die bekannte Formel prägte, indem sie Israel und die deutsche Staatsräson in einem Atemzug aussprach. Heute wird die Formel verkürzt dargestellt: Angeblich habe Merkel gesagt, dass Israels Existenz, manche sagen sogar: Israel selbst, Teil der deutschen Staatsräson sei.

Merkels Wortwahl war vorsichtig

Merkels Wortwahl war vorsichtig. Sie brachte zwei unumstrittene und überhaupt nicht innovative Selbstverständlichkeiten zusammen: Erstens, dass die historische Verantwortung Deutschlands Teil der Staatsräson Deutschlands sei. Das ist unumstritten. Das ist das Wesen der Erinnerungsrepublik. Und zweitens, dass die Sicherheit Israels für eine deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar sei. Auch das, gerade bezogen auf Sicherheit, steht außer Frage. Und ehrlich gesagt, müsste es für alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft selbstverständlich sein. Das gebietet die Satzung der Vereinten Nationen (UN).

Doch erst wurde der Satz in seiner Verkürzung sakralisiert. Aus der Staatsräson wurde plötzlich alles Mögliche abgeleitet: von der Erwartung eindeutiger UN-Abstimmungen bis zu unkritischen Waffenlieferungen. Dass die außenpolitische und diskurspolitische Realität der Bundesrepublik viel differenzierter war, interessierte keinen: Merkel selbst hat mehrmals den Siedlungsbau kritisiert, Deutschland hat 2011 für eine entsprechende Resolution im Sicherheitsrat gestimmt. Selbst über die umstrittene Militäraktion gegen die nicht minder umstrittene Gaza-Flottille 2010 äußerte die Bundesregierung »Bestürzung« und »Bedauern«.

Angela Merkels Satz von der »Staatsräson« wurde zuerst sakralisiert und später skandalisiert.

Nach der Sakralisierung kommt nun die Skandalisierung: Aus dem viel zitierten Satz zur »Staatsräson« wird eine unkritische Haltung gegenüber Israel seitens der Bundesrepublik als Vorwurf abgeleitet. Deutschland werden doppelte Standards unterstellt. Die Stimmung hat sich gewandelt, auf zwei harmlose Sätze der Kanzlerin wird eine angeblich moralische Bankrotterklärung des Westens, insbesondere Deutschlands, projiziert. Und das von immer mehr Menschen in der deutschen Bevölkerung.

Das ist nur ein Symptom des langsamen Untergangs der Erinnerungsrepublik Deutschland. Dieser Untergang ist ein Gemeinschaftswerk. Die gegenwärtige israelische Regierung, genauso wie die unrealistische Erwartungshaltung der jüdischen Gemeinden bei uns in Deutschland, tragen dazu ebenfalls bei. Die Überdehnung der unbedingten Solidaritätserwartung ist genauso unrealistisch wie gefährlich.

Hinzu kommt die historisch und geostrategisch nachvollziehbare, aber kaum vermittelbare Überhöhung der eigenen Ausnahmesituation, die unweigerlich dazu führt, dass die geschichtliche Erinnerung als Band, das Deutschland und Israel, Deutschland und seine Geschichte verbindet, überstrapaziert wird.

Nicht mehr vermittelbar ist jedenfalls in der jetzigen politischen Situation die Erwartung, dass alle politischen Entscheidungen aus Jerusalem unterstützt werden: eine zeitliche Ausdehnung der Operation in Gaza mit einer strategielosen Kontingenz (statt klarer Zielsetzung) der dortigen Operation, die Verfestigung und Ausweitung der Ungleichbehandlung der Palästinenser vis-à-vis der jüdischen Siedler im Westjordanland, die Ausdehnung der Siedlungen.

Das alles ist nicht ohne Weiteres zu erklären, zu vermitteln und, ehrlich gesagt, auch rechtlich wie moralisch nicht zu akzeptieren. Dass der größere Kontext manche dieser Entscheidungen alternativlos macht, ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Die Erwartung von einigen, diese schwer erklärbaren politischen Entscheidungen zugleich als Teil der deutschen Staatsräson zu akzeptieren, sägt am Fundament unserer besonderen Beziehung.

Es gibt aber andere Gründe, warum ich glaube, dass wir bald das Abklingen der Ära der Erinnerungsrepublik erleben. Mit der katastrophalen Lage in Gaza fällt die Veränderung in unserer Gesellschaft zusammen. Eine lang ersehnte Exkulpation, eine Entsolidarisierung mit jüdischen Communitys und eine Digitalisierung der Diskurse.

Eine neue Zeitrechnung in der EU

Hinzu kommt eine neue Zeitrechnung in der EU: Der neue Ursprungspunkt des neuen Koordinatensystems ist nicht mehr die Befreiung vom Nationalismus, sondern der Überfall auf die Ukraine und somit eine neue Verteidigungssituation. Putins Faschismus und der genozidale Krieg in Europa bedingen eine neue Zeitrechnung.

Der moralische Schwerpunkt hat sich somit auch von Westeuropa nach Osteuropa verschoben. Die Erzählung ist nicht mehr die Überwindung der eigenen Dämonen, sondern die Verteidigung gegen die Dämonen von außen.

Und auch darüber hinaus: Wir erleben eine globale Verschiebung der Machtverhältnisse: Der Westen verliert die moralische Deutungshoheit. Der globale Süden fordert eigene Narrative. Erinnerung wird zur Frage der Perspektive. Die Schoa, einst der moralische Nullpunkt, steht heute in Konkurrenz zu anderen Katastrophen: Kolonialismus, Sklaverei, Nakba, Ruanda, Myanmar.

Wir haben unser Erinnern schlecht übersetzt

Die deutsche Erinnerungskultur wird von manchen als elitär empfunden. Als exklusiv. Als nicht relevant für einzelne Biografien. Und das sollten wir ernst nehmen. Nicht, um unsere Geschichte zu relativieren, sondern um zu verstehen: Wir haben unser Erinnern schlecht übersetzt.

Im Jahre 2015 schrieb ich in der »Jüdischen Allgemeinen«, dass Menschen auf der Flucht, die zu uns kommen, keine Heiligen sind. Dass wir sicherlich auch mehr israelfeindliche Demonstrationen und Ressentiments zu sehen bekommen. Dass dies aber zugleich damals kein Grund gewesen sei, diesen Menschen Schutz zu versagen. Nun sehen wir, wie wahr diese Erwartung war. Wir sehen eine Verschiebung des Diskurses in und durch migrantische und postmigrantische Communitys. Die aber zugleich auf dankbaren Boden der jungen ahistorischen und der älteren geschichtsmüden Generationen fällt.

Äußerungen wie die von Gabor Steingart in einem Text in »Focus Online« zeugen nicht von einer Analysestärke, aber durchaus von einer stilistischen Disziplinlosigkeit, von jemandem, der endlich einmal »alles sagen darf«. Die Erklärungen, dass Deutschland bis heute, also 80 Jahre lang, unfrei war, ist Reichsbürger-reif und atmet mehr Revisionismus als analytische Schärfe.

Zugleich steht diese Aussage nicht nur für Steingart. Der Nexus zwischen Geschichte und der Rolle und Verantwortung Deutschlands ist bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung nicht mehr vorhanden. Die neue Generation hat kaum direkten Kontakt zu Menschen gehabt, die (in den eigenen Familien) während der NS-Zeiten gelebt haben.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt der jetzigen Diskussion, der eine sinnvolle Auseinandersetzung sowohl mit Erinnerung als auch mit dem Umgang mit Israel schwierig macht: die öffentliche Fixierung auf den einen Konflikt und das Außerachtlassen anderer Konflikte dieser Welt. Es ist möglich und nötig, Israel, auch in Deutschland, zu kritisieren. Allerdings ist es genauso möglich und nötig, größere Kontexte nicht auszublenden, klassische antisemitische Muster der Kritik zu vermeiden, Verlässlichkeit der Informationsquellen abzusichern.

Emotionalisierung als Gefahr

Wenn dies nicht passiert, emotionalisieren wir die Diskussion in unserer Gesellschaft. Wenn Diskussionen aber emotionalisiert und Emotionen massenhaft geteilt werden, landen wir dort, wo Affekte und Massen zusammenkommen: bei einer gefährlichen psychotischen Aufladung der großen Kollektive. Und das ist eine Gefahr für die, die Massen bedrohen – für Minderheiten.

Erinnerung darf nicht
exklusiv sein. Aber sie darf auch nicht
gleichgültig werden.

Jüdische Menschen sind heutzutage in Europa eine solche Minderheit. Viele von ihnen fühlen sich nicht durch Israelkritik, sondern durch SOLCHE Israelkritik bedroht. Und wenn ich die Überfälle in Washington oder die Zuspitzungen an unseren Universitäten sehe, kann ich diese Verunsicherung nachvollziehen.

Wir müssen alles dafür tun, damit die Ära der Erinnerungsrepublik möglichst weitergeht – denn im Gegensatz zu Gabor Steingart sehe ich in der Befreiung von Erinnerung keine Freiheit, sondern den Verlust von uns selbst und unserer Demokratie. Doch wir müssen uns auf die nahe Zukunft ohne die gewohnten Erinnerungsprinzipien vorbereiten.

Diese Zukunft wird nicht mehr von Erinnerungsritualen geprägt sein, sondern von anderen Maximen. Eine davon ist vielleicht am besten geeignet, eine Grundlage für unsere Zukunft zu bilden: dass es uns in Europa und in Deutschland um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt gehen muss. Um die Sicherheit von allen, vor allem von kleinen Minderheiten. Um Respekt und Safe Spaces. Trotz oder gerade wegen der Stellungnahme zu internatio­nalen Konflikten.

Was also tun? Wie erinnern, wie kritisieren, wenn die Welt sich entzieht? Nicht moralisieren. Nicht ritualisieren. Nicht relativieren. Sondern: radikalisieren. Erinnerung muss unbequem bleiben. Nicht als Schuldmaschinerie. Sondern als Herausforderung. An uns selbst. An unsere Weltsicht. An unser Handeln – im Jetzt. Erinnerung darf nicht exklusiv sein. Aber sie darf auch nicht gleichgültig werden.

Die Erinnerungsrepublik war ein deutsches Experiment. Vielleicht ist es an seinem Ende. Aber was bleibt, ist die Frage: Wollen wir ernsthaft in einer Welt leben, in der uns alles gleichgültig ist – und deshalb nichts mehr gilt?

Der Autor ist Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA. Er hielt die Rede am 12. Juni 2025 in der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

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