Katarzyna Wielga-Skolimowska

»Die documenta muss die meiste Arbeit selbst leisten«

Die Leiterin der Kulturstiftung des Bundes über die Zukunft der Weltkunstschau in Kassel und wie der Kulturbetrieb mit der antisemitischen BDS-Bewegung umgehen sollte

von Ayala Goldmann  02.10.2023 09:50 Uhr

Katarzyna Wielga-Skolimowska wurde 1976 in Warschau geboren. Sie arbeitete lange Zeit als Kuratorin, unter anderem in Israel. Foto: Gregor Matthias Zielke

Die Leiterin der Kulturstiftung des Bundes über die Zukunft der Weltkunstschau in Kassel und wie der Kulturbetrieb mit der antisemitischen BDS-Bewegung umgehen sollte

von Ayala Goldmann  02.10.2023 09:50 Uhr

Frau Wielga-Skolimowska, im Januar haben Sie sich deutlich gegen Boykotte in der Kultur ausgesprochen, speziell gegen Israel-Boykotte und die Boykottbewegung BDS. Sind Sie mit dem Thema in Ihrem Arbeitsalltag oft konfrontiert?
Nach der documenta 15 sind wir alle mit diesem Thema konfrontiert. Ich habe den Eindruck, dass die Kulturinstitutionen, mit denen wir zusammenarbeiten, sich positioniert haben und Boykotte verurteilen. Es gibt deutlich mehr Reflexion darüber, welche Konsequenzen Boykotte im Bereich Kultur haben.

Das heißt, Kultureinrichtungen positionieren sich heute anders als im Dezember 2020, als sich die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« gründete und den Bundestagsbeschluss von Mai 2019 kritisierte, der BDS als antisemitisch einstuft.
Ich kenne keine staatlich finanzierte Kultur­einrichtung in Deutschland, die BDS unterstützt, Sie? Kultureinrichtungen und die Initiative Weltoffenheit (GG 5.3) haben sich wohlgemerkt nicht zum BDS bekannt, sondern es ging um die Komplexität der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses, die sich wahrscheinlich auch das Parlament selbst so nicht vorgestellt hat. Anders geworden ist die Debatte. Das Thema Antisemitismus soll jetzt endlich im Fokus stehen und nicht BDS.

ruangrupa, das Kuratorenkollektiv der documenta 15, hat gegen Ende der Weltkunstschau ein Plakat im Museum Fridericianum aufhängen lassen. Darauf stand in großen Lettern: »BDS: Being in Documenta is a Struggle«. Waren antisemitische Skandale bei der documenta in Kassel für manchen in der Kulturszene ein Augenöffner?
Ich weiß nicht, ob ich das als Augenöffner bezeichnen würde. Es ist einfach ein Lernprozess. Wir lernen jetzt zu verstehen, was Boykotte bedeuten, was sie für die Kultur bedeuten, nämlich das Ausschließen von Personen. Jeder Kurator, jede Kuratorin, jede Leitung einer Institution muss sich damit auseinandersetzen und sich ihrer Verantwortung stellen.

Beobachten Sie, dass sich Boykotteure neuerdings im Recht fühlen, weil in Israel seit neun Monaten eine rechtsextreme Regierung im Amt ist?
Es gibt sicher solche Stimmen, auch antisemitische, die sagen: Ja, wir haben es doch immer gewusst, gleich welcher politischen Couleur. Aber ich finde es gerade jetzt wichtig, dass man israelische Künstlerinnen und Künstler unterstützt und sich anschaut, was für ein Prozess in Israel läuft. Seit neun Monaten protestieren dort Menschen jeden Samstag. Israel boykottieren zu wollen, bedeutet, dass man den israelischen Staat, seine Bevölkerung und sogar seine Kulturszene mit der Regierung gleichsetzt. Und das ist einfach falsch. Übrigens beobachten wir in unserer Förderung eine steigende Zahl der Anträge für Projekte mit Beteiligung israelischer Künstlerinnen. Für mich ist das ein klares Signal.

Sie haben in Ihrem Gespräch mit der Presse im Januar erklärt, das große Problem des Antisemitismus könnte über die Kultur nicht gelöst werden. Kann Kultur trotzdem einen Beitrag leisten?
Kulturinstitutionen können einen Beitrag dazu leisten, dass Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Positionen stattfinden. Das ist ein Beitrag zur Demokratie, den die Kultur flankierend leisten kann – aber Demokratie zu gewährleisten, ist nicht ihre Hauptaufgabe. Kunst, finde ich, muss frei sein und kann auch provozieren und starke Emotionen hervorrufen, sie muss nicht ausgleichend wirken. Man darf ihren Beitrag zur Demokratie nicht idealisieren. Kunst kann Antisemitismus entgegenwirken, aber nüchtern betrachtet eben auch befördern.

In der Findungskommission der documenta sitzt jetzt eine Israelin, Bracha Lichtenberg Ettinger. Könnte man darin ein Zeichen sehen, dass sich das Desaster von 2022 nicht wiederholen soll?
Das ist eine Frage mit zwei Komponenten. Ich glaube, die gesamte Findungskommission der documenta ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Es ist gut, dass eine israelische Künstlerin berufen wurde, aber sie ist natürlich nicht für den gesamten Prozess verantwortlich zu machen, der jetzt ansteht. Die documenta unternimmt eine Organisationsanalyse als Grundlage für die künftige Organisationsentwicklung. Die Probleme der documenta 15 waren auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Ein Teil davon war die Findungskommission und ihre Rolle, ein anderer Teil die Workflows, die Abläufe, die Verantwortlichkeiten. Wir hoffen, dass sich die documenta jetzt anders aufstellt.

Die documenta 15 wurde mit 3,5 Millionen vom Bund unterstützt. Werden Sie 2027 auch die 16. documenta mitfinanzieren?
Wir haben alle fünf Jahre eine Stiftungsratssitzung, in der unsere sogenannten Leuchttürme besprochen werden, zu denen auch die documenta gehört. Diese Sitzung findet im Dezember statt. Was der Stiftungsrat entscheiden wird, kann ich nicht sagen.

Das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta hat in seinem Bericht kritisiert, dass die Kulturstiftung des Bundes trotz Finanzierung der Weltkunstschau ihre beiden Sitze im Aufsichtsrat nicht wahrnimmt. Wären Sie dafür, dass sich das ändert?
Da muss ich kurz zurückgehen zu den Ursprüngen dieser Entscheidung. Der damalige Vorstand hat lange vor der documenta 15 bekannt gegeben, dass er auf diese Sitze im Aufsichtsrat verzichtet, weil gemäß dem bisherigen Vertrag die Gesellschafter – das Land Hessen und die Stadt Kassel – alle Entscheidungen an sich ziehen können, und damit ist der Aufsichtsrat eigentlich machtlos. Auch als neuer Vorstand halten wir diese Entscheidung für richtig. Wir warten jetzt die Organisationsentwicklung der documenta ab, die sich in den unterschiedlichen Gremien selbst reformieren muss. Und dann können wir uns mit dem Stiftungsrat beraten.

Dann wird die Sitzung im Dezember ja spannend.
Davon gehe ich aus. Die Sitzungen sind immer spannend.

Es ist doch ein Widerspruch, dass der Bund die documenta förderte, obwohl die Aufsichtsratssitze der Kulturstiftung des Bundes nicht besetzt waren.
Nein, wir als Stiftung sitzen als Förderin in keinerlei Aufsichtsgremium und halten Förderung der Projekte und Kontrolle der Institutionen auseinander.

Also sind Sie dafür, die Sitze nicht wahrzunehmen?
Das hängt sehr von den Gesprächen mit der Stadt Kassel ab, mit dem Land Hessen, der documenta selbst, dem Stiftungsrat und dem Bund natürlich.

Es ist also noch alles im Fluss.
Die meiste Arbeit muss die documenta selbst leisten. Und ich hoffe, dass sie damit wieder ein bisschen mehr Vertrauen herstellen kann.

Vertrauen ist sicherlich auch beim Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin ein Thema. Bei der Wiedereröffnung im Juni sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth: »Wir fördern keine Veranstaltungen, auf denen für den BDS geworben wird oder Ziele des BDS vertreten werden.« Darüber gab es eine Art Abkommen, einen Code of Conduct. Kann das funktionieren?
Ich finde es wichtig, dass das HKW und andere Veranstalter sich dem Thema Diskriminierung und Ausgrenzung stellen. Ich bin sehr viel in Deutschland unterwegs, und es ist bei vielen Kulturinstitutionen ein großes Thema, wie man einen umfassenden Schutz sicherstellen kann.

Warum erst jetzt?
Weil das einfach früher nicht so präsent war. Wie gesagt, die Debatte hat sich überproportional um BDS gedreht. Aber gerade in den vergangenen Wochen haben wir gesehen, dass Antisemitismus ein Thema ist, das in allen gesellschaftlichen Bereichen, Schichten und Gegenden virulent ist.

Bei den Diskussionen um die Flugblätter in Hubert Aiwangers Schulranzen?
Nicht nur da. Auch der jüngste Antisemitismus-Report der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) macht das erschreckend deutlich.

Hören Sie bei den Kulturinstitutionen, die Sie bei Ihren Dienstreisen besuchen, auch die Sorge um den Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und die Umfrage­ergebnisse für die AfD in Deutschland?
Ja, viele demokratische Institutionen kommen durch Anfragen von Rechtspopulisten in eine Situation, in der sie sich rechtfertigen sollen. Da geht es immer häufiger um die Infragestellung der Existenzberechtigung von Kulturinstitutionen und ihrer staatlichen Unterstützung. Das ist eine bedrohliche Entwicklung, die die Wehrhaftigkeit, die Resilienz demokratischer Organisationen und Institutionen herausfordert.

Was ist Ihr größtes Ziel?
Wir haben in Deutschland eine einzigartige Kulturlandschaft. Eine solche Dichte von Kultureinrichtungen kenne ich nirgendwo auf der Welt. Wir sind stolz darauf, dass die Kulturstiftung seit mehr als 20 Jahren eine sehr wichtige Rolle als Impulsgeber spielt. Mein Ziel ist es natürlich, dass die Stiftung weiterhin zusammen mit den Institutionen und der freien Szene für Innovationen in der Kultur in Deutschland sorgt. Ein aktuelles Thema ist auch das Ost-West-Thema. Wie wird der Osten definiert, inwieweit fungiert er als Projektionsfläche? Die Wahrnehmung und die Interessen haben sich seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine verändert. Eine Neupositionierung gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur. Institutionen verorten sich nun anders, Deutschland ist auch kulturell vom Westen Europas stärker in die Mitte zwischen West und Ost gerückt. Welche Auswirkungen hat das auf unsere kulturelle Agenda, unsere Werte, unsere Erinnerungskultur und die zukünftige gesamtgesellschaftliche Entwicklung? Auch in diesem Zusammenhang wird über Themen wie Antisemitismus und die Fragwürdigkeit von Boykotten zu reden sein.

Mit der Künstlerischen Direktorin der Kulturstiftung des Bundes sprach Ayala Goldmann.

BDS-Bewegung
Im Mai 2019 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen eine Resolution, in der die BDS-Bewegung (»Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen«), die zum Boykott von Israel und Israelis aufruft, als antisemitisch eingestuft wurde. Dagegen stimmten große Teile der Linksfraktion und Teile der Grünen-Fraktion. Die AfD-Fraktion, Teile der Linksfraktion und Teile der Grünen-Fraktion enthielten sich. Im Dezember 2020 gründete sich die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«. Mehrere Leiter von Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen kritisierten darin den Bundestagsbeschluss, weil unter Berufung auf dessen Resolution »durch missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs« wichtige Stimmen »beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt« würden. Zu den Unterzeichnerinnen gehörte auch Hortensia Völckers, damals Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wandte sich gegen die Initiative, weil diese zu Unrecht suggeriere, in Deutschland werde ein kritischer Dialog unterdrückt.

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