Fotografie

Der Schattenmaler

Paris 1928. Jardin du Luxembourg. Die Sonne scheint, und eine Gruppe Kinder schaut begeistert einem Puppenspieler zu. Die meisten Kinder tragen kleine helle Sommerhüte und bleiben brav auf ihren Plätzen.

Aber ein kleines Mädchen mit dunklen Locken ist so verzückt, dass es aufspringt und vor Begeisterung die Hände gen Himmel streckt. Das ist exakt der Moment, den André Kertész festhält. Und das entsprechende Bild »Beim Puppenspiel« kann man derzeit im Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern im Rahmen der Ausstellung André Kertész: Budapest – Paris – New York bewundern.

karriere Andor Kertész wurde 1894 in eine jüdische Familie in Ungarn geboren. Seine Mutter führte ein kleines Café, sein Vater arbeitete als fliegender Buchhändler. Andor, der mittlere von drei Söhnen, begleitete den Vater schon früh auf seinen Handelstouren. Bereits damals entstanden erste Bilder. 1915 wurde Andor einberufen und an die Front geschickt. Auch hier nahm er die Kamera mit und dokumentierte die traurigen Szenen des Krieges. 1916 gewann er seinen ersten Preis für ein Schatten-Selbstporträt im Profil.

Nach dem Krieg fiel es Kertész schwer, in einer immer antisemitischer werdenden Gesellschaft Fuß zu fassen. Ab 1920 folgten unter Miklós Horthy dann die ersten judenfeindlichen Gesetze in Ungarn, sodass Kertész schließlich 1925 seine Kamera einpackte und gemeinsam mit einem Freund nach Paris ging. Dort entwickelte er seinen ganz eigenen melancholischen Blick auf die Welt. »Ich fotografiere, was ich empfinde, nicht, was ich sehe.« Auf Plätzen und Straßen, als Flaneur, der mit Licht und Schatten ganze Geschichten erzählt.

Aus Andor wird André, und es folgen endlich Aufträge für Illustrierte sowie die ersten Ausstellungen. In Paris war er glücklich. 1936 jedoch floh Kertész vor der neuerlichen Bedrohung in Europa nach New York, wo er, nie heimisch geworden, 1985 starb. Diese drei Stationen seines Lebens (Budapest, Paris, New York) versucht die Ausstellung nachzustellen.

Perspektive Leider ist in der Darbietung der Bilder kein Konzept erkennbar. So hängen Bilder aus allen drei Orten und verschiedenen Zeiten relativ unsortiert nebeneinander. Weder anhand der Motive noch anhand der Perspektive lässt sich eine Motivation der Zusammenstellung erahnen oder gar sein Leben nachvollziehen. Und außer einer biografischen Tafel zu Kertész’ Leben findet man auch keine weiteren Erläuterungen zu den ausgestellten Bildern.

Aus Budapest sind viele seiner sehr frühen Bilder zu sehen. »Der Bocskai-Platz« von 1914 etwa zeigt einen abendlichen Spaziergänger, der von seinem Schatten an der Wand überholt wird. Bereits hier wird deutlich, wie Kertész mit einfachen Mitteln von Licht und Schatten ganze Geschichten erzählen kann. Sieht sich der Schatten nach dem Mann um? Oder schaut doch eher der Mann dem Schatten nach? Viele der frühen Werke spielen teils melancholisch, teils humorvoll mit diesem Element.

In seiner Pariser Periode perfektioniert Kertész dieses Spiel mit Linien und Formen, mit Licht und dunklen Nuancen und Spiegelungen aller Art. Es entstehen viele seiner typischen Park- und Straßenbilder. Verlassene Stühle im Park, Straßenlaternen im Schnee, Spaziergänger im Regen. Aber auch, inspiriert durch seine Künstlerfreunde Fernand Léger, Piet Mondrian oder Brassaï, von ihm komponierte und inszenierte Fotografien wie eben Mondrians Brillen und Pfeife.

Weggefährten Fotografische Porträts seiner Freunde und Weggefährten findet man ebenfalls in der Ausstellung. Allerdings – und das leider ganz ohne Hinweis – teilweise nur in Ausschnitten. So zeigt das Museum in Kaiserslautern unter anderem das »Porträt« von Artigas und Wally Wieselthier. In Wirklichkeit ist es jedoch nur ein Ausschnitt des Originalfotos, das Artigas, Wally Wieselthier und Lajos Tihanyi 1926 in einem Bistro in Ile-de-France zeigt. Lajos Tihanyi wurde ebenso abgeschnitten wie die Personengruppe im linken Bildhintergrund am Tresen des Bistros. Einen Hinweis darauf findet man leider nirgends. Auch eine Erklärung, weshalb man nur diesen Ausschnitt zeigt, fehlt. Dabei erzählt das Orginalfoto eine völlig andere – und deutlich humorvollere – Geschichte als der dargebotene Ausschnitt.

In New York schließlich verdichtet sich die Melancholie der Bilder enorm. Bahnstrecken, Häuserreihen und Treppengeländer werden durch Kertész’ Linse zu filigranen geometrischen Kunstwerken; Menschen auf Plätzen zu Accessoires einer größeren Geschichte. Die Bilder werden insgesamt dunkler, was seinem Lebensgefühl entsprochen hat: »Mein Englisch ist schlecht. Mein Französisch ist schlecht. Fotografie ist meine einzige Sprache.« Gleichzeitig stand ihm genau diese Beredtheit seiner Bilder im Weg. Als Kertész 1939 für eine Zeitschrift eine Reportage über den New Yorker Hafen machen sollte, wurde keines seiner Bilder gedruckt, weil die Fotos, wie der Redakteur meinte, »zu viel reden«.

Und dieses Reden war sehr ausgeprägt. Kertész konnte gewissermaßen selbst Gläser zum Sprechen bringen. Sein ebenfalls in Kaiserslautern ausgestelltes Bild »Glas« von 1943 ist ein durch Licht und Wasser verzerrt inszeniertes Weinglas, das auf diese Weise ein entsetztes Gesicht auf einem traurigen langen Hals bekommt und an das Gemälde »Der Schrei« von Edvard Munch erinnert.

wolken Als geradezu charakteristisch für seine New Yorker Periode muss man das Bild »Verlorene Wolke« von 1937 bezeichnen. Das Bild zeigt eine kleine Wolke neben einem riesigen Wolkenkratzer an einem sonst strahlenden Himmel. Mehr Einsamkeit in einem Foto, das gleichzeitig etwas über die Stadt und ihren Fotografen erzählt, ist schlicht nicht denkbar.

»Ich versuche, in allem das Poetische zu entdecken«, schrieb der 17-jährige Andor Kertész 1912 in sein Tagebuch und begann zu fotografieren. Die Ausstellung belegt: Er hat es überall gefunden.

André Kertész: »Budapest – Paris – New York«. Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern, bis zum 12. Juni, www.mpk.de

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