Finale

Der Rest der Welt

So langsam sterben in der Schweiz die »Aktivdienstler« aus. Damit sind jene Soldaten gemeint, die in den Kriegsjahren die Schweiz bewachten. In Kämpfe waren sie zum Glück nicht verwickelt. Ich bin aber so erzogen worden, dass wir – genauer gesagt, unsere Aktivdienstler – damals jeden Feind bezwungen hätten. Zwar besaßen wir 1939 noch wenig Flugzeuge und Panzer, aber allein Berge wären unbezwingbar gewesen.

Als Jugendlicher habe ich es noch miterlebt, wie die alten Leute über die Anzahl ihrer Diensttage im Krieg prahlten. Im Prinzip war das auch das einzig Messbare: Rolf hat 345 Diensttage geschafft, Heinz knapp 200 und der Urs unglaubliche 402!

Natürlich waren Rolf, Heinz und Urs nun nicht meine absoluten Helden. Respekt hatte ich trotzdem vor ihrer Leistung. Schließlich haben sie uns vor Hitler gerettet. Wie sie das geschafft haben, bleibt wohl ein geschichtliches Mysterium. Umso mehr, da ich leider auf Dokumente gestoßen bin, die das Bild des Schweizer Soldaten etwas durcheinanderbringen.

Trattoria In einem Antiquariat habe ich für zehn Franken einen Stapel Briefe erstanden, sogenannte Feldpostbriefe. Hören Sie bitte gut zu. Es sind Briefe von Schweizer Wehrmännern an ihre Frauen. Zum Beispiel an das Fräulein Hug. Abgeschickt wurden die meisten Briefe im Jahr 1941. Zu der Zeit hat die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion angegriffen. Und was schreibt »Oski«? »Schade, dass es seit vier Tagen regnet, die Gegend wäre sonst wunderschön.« Oski befindet sich nämlich gerade in Gandria am Luganersee. Auf dem Bild erkennt man eine kleine Trattoria, in der man sicher gut Spaghetti essen kann. Bessere Nachrichten erfährt Fräulein Frutig.

Ihr Jakob befindet sich zwar sehr, sehr nahe an der Grenze zu Deutschland (Stein am Rhein), aber fröhlich grüßt er: »Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet dir Jakob«. Nur das. Ich halte etwas inne und frage mich selbstkritisch, was ich denn eigentlich erwarte. Gestorben ist ja niemand in der Schweizer Armee. Vielleicht eine Beschreibung der gefährlichen Lage, in der die Schweiz sich befand. Vielleicht so: »Seit drei Wochen marschieren wir durch das schwierige Gelände, die Nahrungsvorräte reichen kaum noch, an Schlaf ist nicht zu denken. Betet für mich!«

Und dann lese ich Folgendes von Fritz (auch aus dem Jahr 1941): »Heute hatten wir frei. Wir benutzten dies, um eine schöne Tour an die italienische Grenze zu machen. Vielleicht hast du von meiner Mutter erfahren, dass ich acht Tage Urlaub erhalte. Morgen versuche ich, doch 14 Tage zu erhalten. Herzliche Grüße, dein Fritz!« Ich liebe die Schweiz und will nicht, dass ihr andere Länder Leid zufügen. Noch mehr liebe ich jedoch die Wahrheit. Die Offenlegung des Inhalts dieser Briefe ist nicht ungefährlich für mich. Betet für mich!

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025