Glosse

Der Rest der Welt

Fast romantisch: Stand-up-Paddel Foto: Getty Images/iStockphoto

Glosse

Der Rest der Welt

Wie sich unsere Kolumnistin den perfekten Urlaubstag vorstellt – und wie nicht

von Margalit Edelstein  07.09.2023 10:36 Uhr

Meine Tante und mein Onkel haben uns heuer in ihr schmuckes kleines Häuschen am Plattensee eingeladen – da konnte ich natürlich nicht Nein sagen, bei Onkel und Tante wird man so richtig verwöhnt. Wiener Mehlspeisen bis zum Anschlag! Meine Tante ist einfach entzückend, mein Onkel ist ein richtig cooler Typ, fit wie ein Turnschuh. Er geht mit meiner Tochter Estelle joggen und Stand-up-paddeln, während ich faul in der Hängematte abhänge.

Gegen Ende unseres Luxus-Urlaubs zeigt Estelle mir ein Tiktok-Filmchen. Anscheinend ist der See berühmt für seine Sonnenuntergänge in den schönsten, glühendsten Pastellfarben, am besten bewundert man das Spektakel per Stand-up-Paddel, von der Mitte des Sees. Am Nachmittag unseres letzten Urlaubstages schleppen wir das tonnenschwere SUP also zum See.

Treppe Der ist ganz romantisch umgeben von Schilf und Gestein, nur eine schmale Treppe führt zwischen Häusern versteckt ins Wasser hinein. Erst paddeln wir am Ufer entlang, Estelle zeigt mir die efeubewachsenen Ufer-Villen, viele von ihnen haben eigene Stege am Wasser, aus einem Fenster dringt Klaviermusik, irgendwer spielt eine Nocturne von Chopin.

Es ist Ende August, die Urlauber sind weg, wir haben den See fast für uns allein, wir paddeln ganz weit raus, langsam senkt sich die Dämmerung über den See. Es ist himmlisch!

Was das Tiktok-Filmchen allerdings ausgeblendet hatte, war die unmittelbar auf den Sonnenuntergang folgende zappendustere Dunkelheit auf dem See. Auch die Info, dass das Ufer quasi keine Nachtbeleuchtung hat, war uns irgendwie entgangen. Eine Taschenlampe wäre eine gute Idee gewesen. Oder auch was zum Drüberziehen. Oder ein Handy. Oder etwas Proviant.

Wie zwei dämliche Schiffbrüchige paddeln wir am Ufer entlang auf der Suche nach der kleinen Treppe ans Ufer. Auf einmal leuchtet eine Taschenlampe auf. Irgendwer steht auf einem der Uferstege. Wir paddeln näher heran, da ertönt auf einmal ein böses Zischen vom Steg, dem folgt eine unverständliche ungarische Schimpftirade. In der Dunkelheit, umrahmt vom Glorienschein seiner Taschenlampe, steht ein kahler Typ in Unterhemd und kurzen Hosen keifend auf dem Steg, neben sich einen leeren Eimer, in der Hand eine Angel. Was will denn der Alte bloß?

Steg Ach so, er ist ein Nachtangler und meint, wir vertreiben ihm die Fische! Da fällt meiner klugen Tochter ein, dass der Anglersteg sich 50 Meter weiter links von unserer verzweifelt gesuchten Treppe befindet. Wir paddeln also weiter, was das Zeug hält, und finden schließlich die rettende Treppe, schleppen uns samt Stand-up-Paddel tropfnass und halb tot nach Hause.

Onkel und Tante warten bereits auf der erleuchteten Veranda, wir werden behandelt wie lang vermisste Schiffbrüchige, es gibt warme Decken und heiße Schokolade. Ich lasse mich wohlig in die Kissen der Hollywoodschaukel sinken. Der perfekte letzte Urlaubstag.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025