Finale

Der Rest der Welt

Foto: Getty Images/iStockphoto

Ich wollte noch nie eine Uniform tragen. Schon als Jugendlicher sträubte ich mich gegen Kleidungsnormen. Als ich auf einer streng orthodoxen Jeschiwa war, hat sich meine Abneigung noch mehr akzentuiert. Ich lernte, dass es mindestens 50 verschiedene Blau- und Schwarztöne gibt. Je nachdem, wie die Hose aussah, wurde man in der Talmudhochschule unterschiedlich schubladisiert. Je unauffälliger die Hose, als desto systemtreuer galt man. Da leider meine Mutter alle meine Hosen kaufte, galt ich als Rebell.

Vielleicht habe ich deshalb den Beruf des Journalisten gewählt. In den Redaktionen gibt es zwar auch eine Kleidersprache, bei Männern gilt aber: je schlampiger, desto kreativer. Wer unrasiert ist und etwas riecht, ist ein Journalist, der über Nacht an seinem Text herumgefeilt hat.

nebenjob So habe ich mir das in den vergangenen Jahren zumindest zusammengereimt. Heute bin ich 44 Jahre alt. Udo Jürgens sang einmal, dass mit 66 Jahren das Leben neu anfängt. Zwei Drittel dieser Wegstrecke liegen schon hinter mir. Journalist bin ich nur noch im Nebenjob. Seit zwei Monaten bin ich Wachmann.

Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich eine richtige Uniform tragen. Mein Leben hat sich bereits mit 44 total verändert. Es beginnt schon um vier morgens. Dann muss ich nämlich aufstehen. Ich ziehe meine Uniform an. Die Hose, die Mütze, das Hemd und den Gürtel. Alle tragen die Uniform meines Arbeitgebers. Und alles ist entweder zu klein oder zu groß. Die Schuhe, darüber habe ich schon einmal geschrieben, sind zu klein. Die Hose dagegen ist zu weit. Das Hemd kratzt. Und erst die Mütze!

Mir kann doch niemand erzählen, dass die Arbeiten für das Heiligtum unbeaufsichtigt durchgeführt wurden.

Weil alles zu klein oder zu groß ist, habe ich eine spezielle Fortbewegungstechnik entwickelt. Sie ist darauf ausgerichtet, mit möglichst wenig Unannehmlichkeiten durch den Tag zu kommen. Manchmal sehe ich mich im Schaufensterspiegel. Ich erschrecke dann jedes Mal, denn ich sehe aus wie Janki, der Schnorrer.

kupferdrähte Warum ich trotzdem glücklich bin? Weil ich zum ersten Mal einen Sinn in meiner Arbeit sehe. Ich bewache nämlich eine Baustelle. Ich gucke, dass niemand etwas stiehlt oder beschädigt. Würde ich die Baustelle nicht bewachen, wären am nächsten Tag alle Maschinen und Kupferdrähte weg.

Da ich, wie gesagt, bereits um vier Uhr morgens aufstehen muss, habe ich keine Zeit zum Beten. Ich singe dafür auf meinen Runden. Zum Beispiel Hatikwa oder Halleluja. Schön wäre es, wenn die Bauarbeiter mit mir singen würden. Daraus könnte sich sogar ein Musical entwickeln: »Die singende Baugrube«. Oder auf Englisch: »The singing construction pit«. Alle Rechte liegen übrigens bei mir.

Eigentlich habe ich den wichtigsten Job auf der Baustelle. Manchmal frage ich mich aber, warum in der Tora keine Wachmänner vorkommen. Mir kann doch niemand erzählen, dass die Arbeiten für das Heiligtum unbeaufsichtigt durchgeführt wurden. Irgendwo wird sicher ein kleiner, etwas rundlicher Mann – mit Glatze – herumgestanden haben, der regelmäßig hinkend seine Runden drehte.

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  10.12.2025

Kalender

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 11. Dezember bis zum 17. Dezember

 10.12.2025

Antisemitismus

Konzert-Comeback: Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Xavier Naidoo kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorwürfe, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  09.12.2025

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 09.12.2025

Sehen!

»Golden Girls«

Die visionäre Serie rückte schon in den jugendwahnhaftigen 80er-Jahren ältere, selbstbestimmt männerlos lebende Frauen in den Fokus

von Katharina Cichosch  09.12.2025

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025