Finale

Der Rest der Welt

Es ist Schabbat o’clock.

Juden haben das Talent, aus ihrem mittelmäßigen Leben einen Albtraum zu machen. Nehmen Sie mich als Beispiel: Ich bin arbeitslos, meine Tochter hasst mich, und wenn ich die Treppe nehme, muss ich hinterher duschen. Trotzdem überlege ich mir, wie mein Leben noch schlimmer aussehen könnte.

Zum Beispiel am Schabbat. Ich bin noch knapp so religiös, die 1000 Vorschriften einzuhalten. Es ist irre, was an diesem Tag alles verboten ist: Schreiben, Tragen, Feuermachen, Mähen und Säen. Zum Glück ist es erlaubt, immer wieder auf die Uhr zu gucken und sich zu ärgern, dass der Ruhetag noch sieben Stunden dauert.
Nicht weit von uns befindet sich ein Fußballplatz.

Ball Die Jungen spielen dort von früh bis spät. Wenn ich am Schabbat daran vorbeilaufe, mache ich mir große Sorgen. Wie müsste ich reagieren, wenn der Ball übers Netz fliegt und direkt auf mich zukullert? Ich sehe 20 Augenpaare auf mich gerichtet. Zusätzlich sehe ich in zehn Kindergesichter. Alle denken sich: »Schafft es dieser dicke Mann, den Ball im ersten Versuch zurückzuschießen?« Ich würde aber rufen: »Jungs, tut mir leid, ich darf den Ball nicht berühren.« – »Warum nicht?« – »Es ist Schabbat, als Jude darf ich einen Gegenstand nicht vom öffentlichen in den privaten Raum transportieren. Das versteht ihr sicher.«

Dann werden sie mir zurufen: »Dann berühren Sie den Ball nicht mit der Hand, sondern kicken ihn zu uns! Dürfen Sie das als Jude?« – »Nein«, schreie ich zurück, »nur in Lebensgefahr.« So etwas ist natürlich noch nie vorgefallen, aber ich bereite mich darauf vor.

Aus dem gleichen Grund laufe ich am Schabbat nie hinter einer Oma mit Einkaufstüte. Wie würde ich reagieren, wenn sie ausrutscht? Die Eier sind verloren, aber würde ich ihr helfen, die Äpfel, Gurken und Tomaten einzusammeln? Einerseits ist das verboten, andererseits könnten Antisemiten mich beim Nichtstun beobachten. In so einem Fall (Lebensgefahr) wäre es mir also doch erlaubt, der alten Frau zu helfen. Wenn ich aber allein wäre, müsste ich wohl an ihr vorbeilaufen. Kein schöner Gedanke. Wenn ich am schönen Zürichsee schlendere, habe ich Angst vor asiatischen Touristen. Ich sehe sie schon fröhlich auf mich zurennen, in ihren Händen teure Handys aus China oder Japan. Sie würden kichern und mich fragen: »Can you take a picture of us?« Am Schabbat nicht, sorry. I am a Jew, you know. Gott hat uns vor 3000 Jahren in der Wüste verboten, mit dem Handy ein Foto zu machen, you understand? Würde das helfen?

Wohnung So verbringe ich den Großteil des Tages damit, dass ich auf die Uhr gucke und mich auf Krisenfälle vorbereite. Auch in der Wohnung. Was tun, wenn die Schabbeskerzen auf den Teppich fallen, der Kühlschrank ausfällt, kein Schabbes-WC-Papier mehr da ist oder der Wecker losgeht und nicht aufhört, bis die Batterie alle ist? Zum Glück werden nun die Tage kürzer und kälter. Ich gehe nicht raus und gucke auf die Uhr: »Nur noch sechs Stunden.«

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