Finale

Der Rest der Welt

»Sei klug und halte dich an Wunder«: Wenn es in der Lieblings-Tapas-Bar am Freitagabend noch freie Plätze gibt ... Foto: Thinkstock

Wenn wir Juden eines wirklich gut können, dann ist das Pessimismus! In unserer mehr als 3000-jährigen Geschichte lassen sich dafür ein paar Gründe finden. Dass Pessimismus nicht zwangsläufig traurig machen muss, beschrieb schon die Dichterin Mascha Kaléko: »Wie glücklich ist der Pessimist, wenn etwas schiefgegangen ist. Und geht es aller Welt auch schlecht, ihm bleibt der Trost: Er hatte recht!«

Meine Familie allerdings pflegt eine äußerst positive und trotz aller Säkularität spirituelle Form des Pessimismus: Wir möchten unsere Schwarzmalerei nicht bestätigt, sondern widerlegt sehen – und leben eher nach Kalékos Vers: »Sei klug und halte dich an Wunder.«

tapas-bar Besonders gut beobachten lässt sich das bei der eingespielten Schabbat-Tradition meines Vaters und mir: Freitags besuchen wir meine Großeltern im Heim, und auf dem Weg nach Hause, quasi als Belohnung, fahren wir dann zu unserer Lieblings-Tapas-Bar. Doch jedes Mal, bevor wir in die Straße des Restaurants einbiegen, sagt mein Vater leicht panisch, leicht resigniert: »Diesmal ist bestimmt kein Platz mehr frei! Wir sind spät dran ...« Oder ich sage: »Es gibt bestimmt noch nichts zu essen! Wir sind zu früh dran ...«

Noch kein einziges Mal haben sich unsere Befürchtungen bewahrheitet. Stets erwartet die Kellnerin uns mit zwei freien Plätzen, auf die wir uns erleichtert fallen lassen, weil die ausgemalte Katastrophe doch nicht eingetreten ist. Unser wöchentliches Schabbes-Wunder!

Wer – wie ich – auch noch besonders kreativ in seinen Befürchtungen ist, erlebt die Welt einfach positiver! So blicke ich auf ein wundervolles Jahr zurück: Marine Le Pen ist nicht, wie von mir befürchtet, Frankreichs neue Präsidentin geworden. Donald Trump hat, anders als erwartet, noch keinen Krieg mit Nordkorea begonnen. Und die AfD hat, entgegen meiner dunkelbraunsten Bedenken, die Bundestagswahl nicht gewonnen. Lauter Wunder!

flirt Ich kann das auch in meinem Leben beobachten. Neulich sagte eine Freundin zu mir: »Wir können froh sein, wenn es in ganz Deutschland drei passende junge, jüdische Männer gibt.« Seither sehen wir jeden netten Kerl, der uns begegnet, so an, wie die Makkabäer wohl am achten Tag ihr Kännchen Öl beäugt haben müssen. (Kleine Warnung: Solche Blicke sind nicht Flirt-förderlich.)

Und ein weiteres Beispiel: Meine Großeltern, die sich vor mehr als 30 Jahren scheiden ließen, leben seit Kurzem im selben Altenheim. Meine Familie war sich daraufhin zum ersten Mal seit Jahren wieder komplett einig: in ihrer pessimistischen Grundeinstellung diesbezüglich nämlich. Allein die Schreckensszenarien variierten und reichten vom lichterloh brennenden Nelly-Sachs-Haus über versuchten Mord bis hin zu einer heimlichen Affäre. Nichts davon jedoch ist (nach meinem Kenntnisstand) bisher eingetreten!

Nur ganz selten verpufft die Illusion eines Wunders. So wie letztes Mal, als mein Vater und ich in der Tapas-Bar doch noch einen Platz bekamen. Wir bedankten uns überschwänglich bei der Kellnerin, die verdutzt erwiderte, sie reserviere uns doch immer freitags etwas: »Ihr seid die, die jede Woche kommen, Datteln im Speckmantel bestellen und seeeeehr schnell wieder weg sind.«

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024