Burgtheater Wien

Der neue »Heldenplatz«

Szene mit Inge Maux, Marie-Luise Stockinger und Birgit Minichmayr Foto: Matthias Horn

Es war natürlich kein Skandal, was Frank Castorf, Aleksandar Denić (Bühne) und Adriana Braga Peretzki (Kostüme) da mit Thomas Bernhards Heldenplatz im Burgtheater angestellt haben. Aber eine Erinnerung an das Theaterereignis, das 1988 die ganze Republik erschütterte, gab es als Fußnote gleich zu Beginn.

Da brüllt Marcel Heupermann immer wieder »Buh« Richtung Saal. Beim Schlussapplaus kamen dann tatsächlich ein paar zurück, allerdings eher pflichtschuldig als enthusiastisch - die Castorf-Fans waren in der Mehrheit. Die von Thomas Bernhard und dem ganz und gar großartigen Ensemble sowieso.

Die giftige Breitseite, mit dem der von Claus Peymann in Auftrag gegebene Bernhard-Text damals die historische Vergesslichkeit von dessen Landsleuten traf, ist mittlerweile Allgemeingut.

Die giftige Breitseite, mit dem der von Claus Peymann in Auftrag gegebene und dann inszenierte Bernhard-Text damals die historische Vergesslichkeit von dessen Landsleuten traf, ist mittlerweile Allgemeingut. Zumindest des Diskurses, wenn auch nicht des Denkens. Der virulente Teil einer braunen, antisemitischen Vergangenheit ist (auch) in Wien nicht zu übersehen oder zu überhören. Wenn auch nicht in der zur Kenntlichkeit entstellenden Übertreibung wie im Stück.

In der Rolle als erstes Opfer der Nazis und nicht als Mittäter lebte es sich deutlich bequemer. (Seinerzeit wurde gespottet, dass nur das Pferd des damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim bei der SA war, während er von nichts wusste.) 

Im Stück trifft man sich nach dem Tod des jüdischen Professors Josef Schuster. Der war den Nazis von Wien nach Oxford entkommen und nach dem Krieg zurückgekehrt. 1988 hielt er die Vergangenheit in der Gegenwart nicht mehr aus und sprang dem Fester seiner Wohnung auf den Heldenplatz in den Tod. Seiner Frau geht das berüchtigte Sieg-Heil-Gebrüll auf diesem Platz, mit dem die Wiener Hitler feierten, nicht aus dem Kopf.

Die bösartig erhellenden Tiraden des Bruders Robert Schuster sind der Kern der Botschaft - sie punkten immer noch mit Treffsicherheit. Auch (oder vor allem), weil sie Birgit Minichmayr als grotesk gespenstische Mumie über die Rampe in den Saal wienert. Immer, wenn der sofort als solcher erkennbare Bernhard-Text tatsächlich zum Zuge kommt, ist der Abend ganz und gar bei seinem Kern, den diese ansonsten mit ihren über fünf Stunden ausufernde Textrevue zur Flut von Bildern und Assoziationen weiträumig umkreist. 

Da Castorf sein Theater ästhetisch weiter perfektioniert hat, liegt dessen Reiz nurmehr in der Variation bekannter Versatzstücke. Eine metaphorische Verortung - diesmal in New York - ist verbunden mit einer Zeitreise ins Jahr 1939. Der Ehrgeiz, Untergründiges aufzuspüren, führt auch diesmal zu mehr oder weniger schlüssigen Fahrten mit der U-Bahn.

An dem nachgebauten Eingang der Brooklyner Station Borough Hall wirbt ein Plakat für ein Massenspektakel unterm Hakenkreuz fürs »wahre Amerika« am 20. Februar 1939 im Madison Square Garden! In Fraktur - wie über einem ein Biergarten-Zugang - prangt der Schriftzug: »Umbringen sollte ma Ihnen«. Im Hintergrund ein portalfüllendes Schwarzweiß-Foto einer Reichsparteitags-Massenhysterie. 

Bei dem auf Video übertragenen Leichenschmaus im Inneren des Containers werden Pellkartoffeln geschält.

Bei dem auf Video übertragenen Leichenschmaus im Inneren des Containers werden Pellkartoffeln geschält. Wenn der wunderbaren Inge Maux dann der Kopf in die Kartoffeln fällt, landet Peymanns Schlussbild von einst als hübscher kleiner Witz in Castorfs Theater.

Einen Vorzug hat diese Castorf-Inszenierung: Mit seiner mittlerweile erreichten Alterssoveränität mutet er seinen Schauspielern zwar nach wie vor allerhand zu, aber vor allem lässt er sie leuchten. Mit dem Bernhard-Sound und mit den Fremdtexten aus der US-Perspektive auf Hitlers Reich. (Mit langen Passagen von Thomas Wolfe (1900-1938) und naiv bewundernden Tagebucheindrücken des jungen John F. Kennedy von seiner Europatour 1937.)

Mit der Ausstrahlung ihres jeweiligen Alters - ihrem Charisma. Mit einer überwältigend wandlungsfähigen Birgit Minichmayr im Zentrum. Mit der Altersweisheit des grandiosen Branko Samakrovski und der Altersschönheit der Inge Maux bis zum fabelhaften Franz Pätzold (der für einen langen Wolfe-Monolog Szenenapplaus kassiert), Marie-Luise Stockinger und Marcel Heuperman. Bei denen wird Sprache nie zur Nebensache. Burgtheater eben. Ein langer Abend. Mit Nachwirkungen. 

Hebraica

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