Roman

Der Muslim und die alte Jüdin

Neu übersetzt: Romain Garys Skandalgeschichte aus dem Jahr 1975

von Alexander Kluy  09.10.2017 11:51 Uhr

Für viele Autoren ist es schwer, ein Kind so sprechen zu lassen, dass man es der Figur glaubt. Für Gary ist es ein Leichtes. Foto: PR

Neu übersetzt: Romain Garys Skandalgeschichte aus dem Jahr 1975

von Alexander Kluy  09.10.2017 11:51 Uhr

Was ist zuerst da – das Leben oder der Roman? Was war zuerst da – die Vorstellung der Mutter, aus ihrem Sohn einen Diplomaten und Schriftsteller zu machen, oder das autobiografische Buch Frühes Versprechen, das Romain Gary (1914–1980) als Diplomat und berühmter Autor schrieb?

Dabei gab es Romain Gary gar nicht. Beziehungsweise es gab ihn 1960, mit 46, erst seit 15 Jahren. Denn der 1914 Geborene hieß eigentlich Roman Kacew. Seine Mutter dichtete ihm eine blendende Zukunft an als Schriftsteller, Musiker, Maler und Sänger. Vor allem aber erträumte sie ihn sich als Diplomat in Diensten der französischen Republik. Nach der Revolution der Bolschewiki floh sie mit ihrem damals dreijährigen Sohn aus Russland und emigrierte mit ihm 1927 nach Nizza, wo sie eine Stelle als Verwalterin einer Pension ergatterte. Aus Roman wurde Romain, erst Jurastudent, dann im Krieg aufseiten de Gaulles Kampfflieger.

Diplomatie 1945 erhielt er das Angebot, in den diplomatischen Dienst einzutreten. Und nannte sich ab da: Romain Gary. Das Leben, ein Traum? Da war sein erstes erfolgreiches Buch schon erschienen. Es folgten bis zu seinem Freitod 1980, unter Verwendung mehrerer Pseudonyme, mehr als 30 Bücher. Bis heute ist er einer der meistgelesenen Autoren Frankreichs.

In Deutschland dagegen ist Gary immer noch weitgehend unbekannt. Nun legt der Zürcher Rotpunkt-Verlag eine sehr verdienstvolle Neuübersetzung seines bekanntesten Romans Du hast das Leben vor dir vor. Christoph Roeber findet einen adäquat frechen, zeitgemäßen Tonfall für Momo, der nahezu ohne Punkt und Komma erzählt. Der Junge lebt als »Hurenkind« bei Madame Rosa, einer Schoa-Überlebenden, in Paris-Belleville. Sie, einst selbst Prostituierte, inzwischen Ende 60, lebt von Geldern, die sie für ihre semi- bis illegalen Pflegekinder wie Momo erhält.

Momo Für viele Autoren ist es schwer, ein Kind so sprechen zu lassen, dass man es der Figur glaubt. Für Gary ist es ein Leichtes. Er lässt den 14-jährigen Momo alias Mohammed mal witzig-vorlaut, mal vorzeitig desillusioniert, am Ende, als die in die Demenz abrutschende Madame Rosa stirbt, bewegend-melancholisch sein. Denn es ist Momo, ihr Herzensliebling, der ihr einen würdigen, wenn auch als grelle Groteske, aber nie als herzlose Karikatur geschilderten Tod verschafft.

Du hast das Leben vor dir ist ein überbordendes Buch der Masken; überbordend an Reichtum, Details, Armut, Elend und Härte, aber auch an Humoristischem, an Toleranz – eine herzensgute senegalesische Transvestiten-Prostituierte war 1975 noch skandalös! – wie an Witz, auch an Tabus, die Momo vollkommen gedankenlos überschreitet. Überbordend ist es auch an zwei weiteren Eigenschaften: an Zärtlichkeit und an der Liebe des so ungleichen herzergreifenden Paares.

Romain Gary: »Du hast das Leben vor dir«. Rotpunkt, Zürich 2017, 248 S., 24 €

Berlin

Joachim Gauck und Herta Müller fordern Unterstützung für Exilmuseum

In der Hauptstadt entsteht ein Museum über die Vertreibung aus Deutschland während der NS-Zeit und heutige Fluchtbewegungen

von Bettina Gabbe  24.03.2023

Legenden

Reporter und Revolutionär

Vor 75 Jahren starb Egon Erwin Kisch: Seine Reportagebände haben bis heute nichts an ihrer Faszination verloren

von Michael Heitmann  24.03.2023

Ausstellung

Liebermann-Villa zeigt Fotoporträts des Künstlers

Zu sehen sind 16 Aufnahmen von Liebermann und seiner Familie aus den Jahren 1905 bis 1932

 24.03.2023

NS-Geschichte

»Flashes of Memory« im Land der Täter

Im Berliner Museum für Fotografie wird eine Ausstellung mit Holocaust-Bildern aus der Sammlung Yad Vashems gezeigt

von Imanuel Marcus  23.03.2023

Medizin

»Wir sind Weltmeister im Operieren«

Der Orthopäde Martin Marianowicz fordert ein Umdenken bei der Behandlung von Rückenschmerzen

von Lilly Wolter  23.03.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  23.03.2023

Klassik

Daniel Barenboim ist zurück

Orchester der Barenboim-Said Akademie gibt Debüt

 22.03.2023

arte

TV-Tipp: »Der Pantomime Marcel Marceau«

Er war ein Künstler, der Unsagbares ohne Worte vermittelte. Zu seinem heutigen 100. Geburtstag wird nun eine ganz besondere Doku ausgestrahlt

von Ulrike Cordes  22.03.2023

Serien

Wie alles begann

Prequel zu »Shtisel«: »Kugel« ist eine Zeitreise zu den Anfängen von Nukhem und seiner Tochter Libbi

von Imanuel Marcus  22.03.2023