Kino

Der Marathon-Mann

»Ich fand meine Identität, indem ich fremde Identitäten angenommen habe«: Dustin Hoffman Foto: Reuters

Diese Nase! Viel zu groß, viel zu jüdisch, geht gar nicht. Und wie, bitte schön, soll man diesem Typen einen 21-Jährigen abnehmen? Man sieht doch, dass er 30 ist. Abgesehen davon, dass er klein wie ein Zwölfjähriger ist.

Doch Mike Nichols meinte es ernst. 1967, als es bei der Besetzung von Schauspielern noch nicht so ängstlich zuging wie heute, wollte er für die männliche Hauptrolle seiner romantischen Komödie Die Reifeprüfung Dustin Hoffman haben. Einen Mann, den erstens niemand kannte (weil er sich davor nur an New Yorker Off-Off-Theatern durchgeschlagen hatte), der zweitens nichts Herzensbrecherisches an sich hatte (ein erhebliches Manko für eine Rolle, die darin bestand, eine doppelt so alte Frau ihre Manieren vergessen zu lassen), und drittens überhaupt nicht so aussah, wie ein Filmstar aussehen sollte – sondern klein, unmuskulös und irgendwie viel zu jüdisch für die militant saturierte und protestantisch geprägte amerikanische Mittelschicht, in die er einbrach.

überzeugend Glücklicherweise geht es nicht immer um die äußeren Werte. Das Publikum verknallte sich in Hoffman. Es brauchte nur eine einzige Gelegenheit, um sich davon zu überzeugen, was für ein fantastischer Schauspieler er ist. In jede Rolle, die man ihm gab, stürzte er sich hinein, als ob es um sein Leben gegangen wäre.

Und so wurde Hoffman zu jemandem, dem man verlässlich alles abnahm: den Geschichtsstudenten Baby Levy, der einen ehemaligen KZ-Folterarzt der Gerechtigkeit zuführt (Der Marathon-Mann, 1976); einen sterbenskranken Kleinkriminellen, der durch New York hinkt (Asphalt-Cowboy, 1969); den Enthüllungsjournalisten an der Seite von Robert Redford, der einen Präsidenten stürzt (Die Unbestechlichen, 1976); den Autisten Raymond Babbitt, der in Los Angeles ein Kasino knackt (Rain Man, 1988); einen verstörten Scheidungsvater (Kramer gegen Kramer, 1979); einen Filmproduzenten, der einen fiktiven Krieg gegen Albanien inszeniert, um vom Sexskandal eines US-Präsidenten abzulenken (Wag the Dog, 1997).

Wahrscheinlich gibt es in Hollywood keinen anderen Schauspieler, der sich mit so vielen unterschiedlichen Performances und so vielen ikonischen Szenen ins kulturelle Gedächtnis geätzt hat.

Der einzige Mensch, der sich schwer damit tat, von Dustin Hoffman umgeworfen zu werden, ist er selbst. Bis zu seinem jähen Ruhm war sein Leben eine 30 Jahre währende Durststrecke gewesen. »Meine Eltern«, sagte er einmal, »hätten nie Eltern sein dürfen.« Seine Mutter Lillian war eine Teilzeitschauspielerin und Jazzpianistin, sein Vater Harry ein kleiner Geschäftsmann, bis er bankrottging und Möbelverkäufer wurde. »Unser Abendessen waren oft Cornflakes«, erinnert sich Hoffman an seine Kindheit, die auch von emotionaler Armut geprägt war. Sein Vater war ein unzugänglicher Mann, der kaum redete – schon gar nicht über seine jüdische Herkunft.

Erst spät in seinem Leben erfuhr Hoffman, wie sehr sein Vater in seiner Kindheit traumatisiert worden war. Dessen Großvater war im Bürgerkrieg nach der Russischen Revolution von den Bolschewisten umgebracht worden. Bis zu seinem Tod im Jahre 1988 habe Harry nie darüber gesprochen und alles getan, um die Familiengeschichte zu verdrängen. Er bezeichnete sich als Atheist, während Hoffmans Mutter sich einer Nasenoperation unterzog, »um nicht mehr jüdisch auszusehen«. Je älter er werde, desto mehr werde er sich seines Judentums bewusst, sagte Hoffman im vergangenen Jahr in der TV-Show Finding Your Roots. Das weiterzugeben, ist ihm wichtig: Im Gegensatz zu ihm selbst hatten alle seine Kinder und Enkelkinder eine Barmizwa oder Batmizwa.

Identitäten Als Schüler war Hoffman ein Versager, und dass er sich schließlich am College in einen Schauspielkurs einschrieb, hatte einen einzigen Grund: Ein Freund hatte ihm gesagt, dass dort niemand durchfalle. Doch dann stellte er fest: »Es fiel mir leicht, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Endlich fühlte ich mich zu etwas nütze. Ich habe meine eigene Identität gefunden, indem ich fremde Identitäten angenommen habe.«

1958 zog Hoffman von Kalifornien nach New York, um Schauspiel zu studieren, auch das eine Erlösung. In Kalifornien hatte er immer wieder Antisemitismus mitbekommen und von seiner Familie den Rat, sich nicht als Jude zu erkennen zu geben; in New York fand er die Freiheit, so zu sein, wie er sein wollte. »Ich stieg auf der Second Avenue aus dem Flughafenbus, es war Sommer, es war heiß, das Erste, was ich sah, war ein Kerl, der gegen einen Reifen pinkelte, und sofort fühlte ich mich zu Hause.«

Was ihn betraf, wollte er nicht mehr, als am Theater so gut beschäftigt zu sein, dass es zum Leben reichte. Das klappte nicht immer, weswegen Hoffman Jobs als Kellner, Tellerwäscher, Wärter in einer psychiatrischen Klinik oder Spielzeugverkäufer annehmen musste, und eine Zeit lang war sein Bett eine Matratze in der Küche des Apartments von Gene Hackman, mit dem er bis heute befreundet ist.

Unsicherheit Dann hatte er, mit 30, das Glück, für die Reifeprüfung erwählt zu werden. Selbstvertrauen gab ihm das nicht. Aus den Rollen, die er sich nicht zutraute, hätten sich mit Leichtigkeit noch zwei oder drei weitere Weltkarrieren bestreiten lassen. Er sagte für Schindlers Liste und Unheimliche Begegnung der dritten Art sowie den von ihm verehrten Regisseuren Federico Fellini oder Ingmar Bergman ab. Und schaffte es sogar, Samuel Beckett zu versetzen, der ihn unbedingt für eine Godot-Inszenierung haben wollte. Hoffman ging hin, schlich eine Stunde lang um das Café in Paris, in dem sie verabredet waren, und verzog sich dann wieder ins Hotel. Zu viel Muffensausen.

Vielleicht ist es ja diese Unsicherheit, die ihn so gut macht. Jemand, der narzisstisch von sich selbst überzeugt ist, investiert nicht so viel in sein Spiel, einer mit seelischen Brüchen dagegen tut alles, um gegen seine Versagensangst zu kämpfen. Hoffman ist legendär für seine akribische Rollenvorbereitung (vor Rain Man hat er sich ein ganzes Jahr lang in psychiatrischen Kliniken umgesehen), und er hat mit seinem Perfektionismus mehr als einen Regisseur an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben.

Noch etwas zeichnet ihn aus: Er ist nicht an jener Sorte Männlichkeit interessiert, die sonst in Hollywood gängig ist. Seine Filme sind oft auf leise Weise anti-machohaft, und im wirklichen Leben ist er seit fast vier Jahrzehnten glücklich mit derselben Frau, der Unternehmerin Lisa Gottsegen, verheiratet.

Am 8. August wird Dustin Hoffman 80. Ein Marathon-Mann, der noch lange nicht am Ziel ist.

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