Nachruf

Der letzte New Yorker Intellektuelle

Nathan Glazer (1923–2019) Foto: imago/UIG

Nachruf

Der letzte New Yorker Intellektuelle

Zum Tod des amerikanischen Soziologen und widerwilligen Neokonservativen Nathan Glazer

von Kevin Zdiara  31.01.2019 10:12 Uhr

Das jüdische New York der frühen 40er-Jahre war ein Ort scharfer ideologischer Auseinandersetzungen zwischen Stalinisten, Trotzkisten und Sozialisten. Einer, der in diesem Umfeld seine ideologischen Argumente geschärft hat und damit zu einem der führenden Intellektuellen der USA wurde, war Nathan Glazer. Jetzt ist Glazer am 19. Januar im Alter von 95 Jahren in Cambridge, Massachusetts, gestorben.

Glazer wurde 1923 in New York als jüngstes von sieben Kindern geboren. Seine Eltern stammten aus Polen und sprachen hauptsächlich Jiddisch. Sein Vater war ein einfacher Arbeiter in der Bekleidungsindustrie, und Nathan Glazer wuchs in den New Yorker Slums von East Harlem und East Bronx auf.

MARXISMUS Mit dem Studium gelang ihm der Ausbruch aus dieser Welt. Er ging an das New Yorker City College, das damals als Brutstätte des Linksradikalismus galt. Dort fand er schnell Anschluss an eine Gruppe junger Juden um Irving Howe, Irving Kristol und Daniel Bell. Diese fühlten sich dem Marxismus verpflichtet, hatten aber nach dem Triumph des Stalinismus mit der kommunistischen Bewegung gebrochen. Sie wurden zu Renegaten, und das wurde für sie zu einem bestimmenden Element ihrer intellektuellen Laufbahn.

Glazer sammelte erste publizistische Erfahrung bei der linken Zeitschrift »Partisan Review« und arbeitete nach seinem Universitätsabschluss als Redakteur beim wichtigen Debattenmagazin »Commentary«. Später lehrte er Soziologie an der University of California in Berkeley und an der renommierten Harvard-Universität in Cambridge.

MELTING-POT In seinem wissenschaftlichen Schaffen zeigte er sich als weitsichtiger Analytiker moderner westlicher Gesellschaften. In dem Buch The Lonely Crowd (1950) kam er zusammen mit David Riesman zu dem Schluss, dass in der postindustriellen Gesellschaft der »außengeleitete« Typus, der sein Verhalten maßgeblich über das Verhalten der anderen definiert, zum bestimmenden sozialen Charakter geworden ist. In der Studie Beyond the Melting-Pot (1963) setzte er sich zusammen mit Daniel Patrick Moynihan mit den Herausforderungen einer ethnisch pluralen Gesellschaft auseinander. Ihre These, nach der kulturelle Identitäten für Individuen weitaus wirkmächtiger sind und bleiben werden, besitzt angesichts gegenwärtiger Debatten um kulturelle Identität weiterhin größte Aktualität.

Er revidierte seine Meinung, wenn er neue Erkenntnisse hatte.

Als er Mitte der 60er-Jahre nach Berkeley ging, wurde er Zeuge der dortigen Studentenunruhen. Diese machten ihn zu einem Gegner linker Positionen. Er sah im militanten Auftreten der Studenten eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Er wurde zu einem Kritiker staatlicher Sozialpolitik und bemängelte auch die gezielte Förderung von Minderheiten, die für ihn eine Gefahr für das Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen war. Das brachte ihm den Ruf eines Neokonservativen ein. Aber anders als sein Weggefährte Kristol ließ er sich nie von der politischen Rechten vereinnahmen. Er bewahrte sich seine intellektuelle Unabhängigkeit und war bereit, seine Meinung zu revidieren, wenn er neue Erkenntnisse hatte.

JUDENTUM Sein Judentum war für ihn wie für die meisten New Yorker Intellektuellen kein zentrales Thema, obwohl oder gerade weil sie aus einer Welt kamen, in der jiddische Kultur und orthodoxes Judentum zum Alltag gehörten. Sie waren mehrheitlich nicht religiös und beschäftigten sich auch nur wenig mit dem Zionismus. Sie standen damit für eine Generation von Juden, die in der amerikanischen Gesellschaft angekommen waren. Glazer interessierte sich aber für die Entwicklung des amerikanischen Judentums von einer wissenschaftlich distanzierten Warte aus.

Mit American Judaism (1957) legte er eine der ersten soziologischen Studien zum amerikanischen Judentum vor. Darin schlussfolgerte er, dass die bestimmenden Strömungen des konservativen und Reformjudentums langfristig nicht die spirituelle Bindungskraft besäßen, um ihr Überleben zu sichern. Es war vor allem das chassidische Judentum, das Glazer mit der Bewunderung eines Außenseiters beschrieb. Ein Judentum losgelöst von einer sinnstiftenden Verbindung zur jüdischen Tradition war für ihn, den säkularen Juden, undenkbar.

Mit dem Tod von Nathan Glazer ist jetzt einer der letzten Vertreter der New Yorker Intellektuellen gestorben. Damit geht auch eine Debattenkultur in den USA zu Ende, die gerade heute in der unversöhnlichen Atmosphäre der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen linken Demokraten und rechten Republikanern schmerzlich vermisst werden wird.

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