Polen

Der letzte Klezmer

»Eigentlich spielt ein Klezmer nicht. Er betet mit seinem Instrument«: Leopold Kozlowski Foto: Agnieszka Hreczuk

Wenn sich Leopold Kozlowski an das Geschehen vor über 65 Jahren erinnert, bricht seine Stimme immer noch weg. Schnell wischt er die Tränen ab, die über die Wange laufen und am prächtigen weißen Schnurrbart hängen bleiben. Seine fröhlichen Augen werden für einen Moment traurig, wenn er erzählt: »Es war in einem Kulturhaus in Ostdeutschland. Kurz nach 1945. Ich habe gesagt, ich will Musik hören. Am nächsten Tag kam ich wieder. Der Hausmeister zeigte mir einen Platz im Saal. ›Hier saß mal Hitler‹, sagte er mir. Und ich habe mich dort hingesetzt. Ich, ein Jude. Das Orchester spielte. Und ich rief am Ende: ›Papa, dein Traum ist wahr geworden. Sie spielen für uns.‹«

Nun schaut Leopold Kozlowksi weg. Sein Vater hat es nicht erlebt, dass Deutsche für einen Juden musizieren. Auch seine Geschwister und seine Mutter nicht. Die ganze Familie Kleinman-Kozlowski ist im Holocaust umgekommen. Nur Leopold hat überlebt. Die Musik hat ihn gerettet.

instrument Der 93-jährige Leopold Kleinman-Kozlowski ist ein kleiner, runder Mann. Und er ist Klezmer. Ein traditioneller jüdischer Musiker, der letzte in Europa. Sonst spielt niemand nach der alten Tradition, so wie es jahrhundertelang Klezmorim getan hatten. Im Grunde spielt ein Klezmer nicht, sagt Kozlowski und fragt: »Wissen Sie, woher das Wort Klezmer stammt? Es kommt von Musikinstrument und von Beten. Ein echter Klezmer betet mit seiner Geige oder Klarinette, er spricht mit Gott. So ist es richtig.«

Leopold musste Klezmer werden, er hatte keine Wahl: Sein Opa spielte vor Kaiser Franz Josef, sein Vater, Cwij Kleinman, für das polnische Staatsoberhaupt Józef Pilsudski, und sein Onkel Naftali Bradtwein emigrierte vor dem Krieg in die USA, wo er zum König der jüdischen Musik avancierte. Musik war die einzige Welt, die der 1918 geborene Leopold kannte. Zunächst schloss er ein Konservatorium ab, wollte mit seinem Vater in einem Ensemble spielen. Der jüngere Bruder Adolf sollte sie begleiten. Dann kam der Krieg.

In Przemyslany, einer kleinen Stadt, 40 Kilometer von Lemberg entfernt, im damaligen Polen, lebten die Juden zunächst noch relativ ruhig. Nach Kriegsausbruch ging dieser Teil Polens an die Sowjetunion. Doch 1941 marschierten die Deutschen ein. »Wir haben gehört, die Deutschen verfolgten nur Männer, sperrten sie ins Lager oder brachten sie um. Die Frauen sollten in Ruhe gelassen werden. So lauteten die Gerüchte.«

flucht Leopold flüchtete mit seinem Vater und seinem Bruder Adolf in den Osten. Sie fanden ein Versteck auf einem Friedhof in einem Dorf bei Kiew. In einer Gruft. Am Tag lagen sie in Särgen. Auch Leopold, der vorher schon Angst gehabt hatte, bloß an einem Friedhof vorbeizulaufen. In der Nacht verließen sie ihr Versteck und wurden mit Essen versorgt. Aber sie wollten sich nicht mehr verstecken. Sie wollten zurück nach Hause.

Dann rettete die Musik zum ersten Mal Leopolds Leben. »Auf einem Seitenweg haben wir deutsche Soldaten getroffen. Sie haben sofort erkannt, dass wir Juden sind. Sie stellten uns an einen Straßengraben und zielten auf uns mit Gewehren.«

Leopolds Vater fragte plötzlich, ob sie noch etwas spielen dürften, sie hätten eine Geige dabei. Warum nicht, ein paar Minuten Leben können die Soldaten diesen drei verhungerten Juden noch schenken, hieß es. Sie spielten Tango, Dieser letzte Sonntag, ein in Polen beliebtes Stück. Die Soldaten hörten zu. Dann passierte ein Wunder. »›Das Gewehr senkt ab‹, haben sie gesagt und gingen weiter. Wir haben überlebt. Mein Vater sagte danach: ›Ach, wenn sie einmal auch für uns spielen würden.‹«

Die Worte hat sich Leopold gut gemerkt. »Vier Jahre später, als ich mit der Armee in Deutschland war, sah ich in einer kleinen Stadt ein Kulturhaus. Ich trat ein. Nur ein Hausmeister war da, alle Musiker hatten sich versteckt. Er hat mich ängstlich angeschaut. ›Russe?‹, fragte er. ›Nein, Pole.‹ Das hat ihn etwas beruhigt.« Leopold wollte, dass die Musiker etwas spielten. Der Hausmeister sagte, er solle am nächsten Tag kommen. Und dass sie nichts zu essen hatten. Am nächsten Tag kam Leopold mit Essenspäckchen aus dem Armeelager. Die deutschen Musiker spielten. »Damals in Ostdeutschland habe ich den Traum von Papa verwirklicht. Ich war stolz. Er konnte es nur nicht mehr erleben.«

exekution Cwij Kleinman hatte dem Tod nicht entkommen können. Als Leopold mit seinem Vater und seinem Bruder 1941 nach Przemyslany zurückgekommen war, wurde die Stadt für »judenrein« erklärt. Der Vater wurde bei einer Massenexekution erschossen. Leopold und sein Bruder landeten mit ihrer Mutter in einem Arbeitslager in Kurowice. Dort spielte er in den Lagerorchestern: bei der Arbeit, bei den Exekutionen.

Ein bisschen Erinnerung an ihre Heimat schenkte er seinen Mitgefangenen. »Ich habe gespielt, um sie zu trösten, ihnen Mut zu geben, um den nächsten Tag zu verkraften.« Es war jüdische Musik: Meine jiddische Mama, Mein Shtetele Belz, Rozhinken mit Mandeln. Lieder, mit denen sie aufgewachsen waren. »Die Deutschen sind sich dessen nicht bewusst gewesen. Ich habe es so gemacht, dass sie geklatscht haben, sich gefreut haben«, sagt er. »Keiner hat mitbekommen, dass es jüdische Musik war. So gut kannten sie das, was sie gehasst haben!«

Die SS-Leute hörten gerne zu, wenn dieser junge polnische Jude spielte. Und der merkte schnell: Musik war die einzige Chance für ihn und seine Familie. Überleben ging nur mit Musik.

Der Lagerführer wollte Akkordeon lernen. An der schönen, blauen Donau sollte Leopold ihm beibringen. Er bekam eine Woche Zeit. »Wenn ich es kann, wirst du leben. Wenn nicht, stirbst du so, wie noch niemand im Lager gestorben ist.« Der Lagerführer war völlig unmusikalisch. Doch zu Leopolds Glück waren das auch die anderen SS-Männer. Bald ließ sich der Lagerführer von seinen betrunkenen Leuten für seinen Vortrag feiern.

Das war Leopolds Glück. Auch wenn die Demütigung enorm war. Auf den privaten Orgien ließen sie ihn manchmal nackt spielen. »Ich hatte seit drei Tagen nichts gegessen. Ich dachte, ich würde verrückt vom Geruch der Speisen, die auf den Tischen standen. Sie bewarfen mich mit Essensresten, übergossen mich mit Mayonnaise.« Er spielte. Am nächsten Tag kratzte er die getrockneten Essenreste von seinem Körper und aß sie.

Als Leopold durch Zufall erfuhr, dass das Lager aufgelöst werden sollte, flüchtete er mit seinem Bruder. Seine Mutter schaffte es nicht. Sie wurde erschossen. Leopold schloss sich den Partisanen aus der Untergrundarmee an. Die einzige jüdische Einheit der Untergrundarmee in ganz Polen. Sie kämpften mit Gewehren in den Händen.

Kugel Doch wieder war es die Musik, die ihn schützte. Leopold trennte sich nämlich nicht von seinem Akkordeon, auch nicht während des Kampfes. Als er angeschossen wurde, blieb die Kugel im Instrument stecken. »Ich habe mein Akkordeon nie verraten. Wie könnte ich es jemals tun? Bis heute habe ich es, nur jetzt steht es auf dem Regal. Aber einmal pro Woche spiele ich immer noch«, lächelt er.

Eines Tages, als sie im Wald waren, wurde der Bruder krank. Er blieb im Dorf, wo die Partisanen Station machten, während die Einheit im Einsatz war. Das Dorf wurde von ukrainischen Nationalisten überfallen. Sie wussten, dass die Bewohner auch Juden versteckten. Adolf sprang aus dem Haus und wurde gefangen. Mit einer Axt hackten sie ihm den Kopf ab.

Erkennbare Gräber gibt es nicht. Der Vater liegt in einem Massengrab, mit Dutzenden anderen erschossenen Juden. Die Mutter ruht irgendwo im ehemaligen Lager. Der Bruder nahe dem Dorf, an einem Baum. Erst Jahre nach dem Krieg durfte Leopold hinfahren, in die Sowjetunion, zu der damals die Ukraine gehört hatte. Die Baumrinde ist zugewachsen, das mit einem Messer eingeschnitzte Zeichen ist verschwunden. Leopold wählte einen Baum. Ein symbolisches Grab. Seit Jahren kommt er hierher und zündet eine Kerze an. »Hier ruhen sie, meine Mutter und mein Bruder.«

Rache Als die Front näherrückte, schloss er sich der polnischen Armee an und ging bis nach Berlin. Eines Tages überzeugte ihn ein Kamerad, Tomasz, sich zu rächen. Dessen kleine Tochter war von den Deutschen ermordet worden. Dafür sollten sie büßen. In der kleinen Stadt, in die sie gerade einmarschiert waren, wurden die Bewohner in eine Halle gesperrt. Leopold und Tomasz gingen hin, sie wollten sie umbringen. Die Deutschen hatten Angst. Auf einmal weinte ein Kind. Eine Frau hielt ihr Baby im Arm. Es sei hungrig, es habe seit drei Tagen nichts gegessen, sagte die Mutter. Sie ließen ihre Gewehre fallen, fuhren zu einem acht Kilometer entfernten Bauernhof und kamen mit Milch zurück. »So sah unsere große Rache aus.«

Der Krieg war zu Ende. Menschen kehrten zurück. Leopold hatte kein Zuhause. Die ganze Familie war tot. Przemyslany lag nun in der Sowjetunion. Aber er hörte von Kazimierz, einem jüdischen Viertel in Krakau. Da fuhr er hin, doch er fand keinen Juden. »Nur Steine und Häuser gab es. Fast alle Juden aus Krakau sind im Holocaust ums Leben gekommen. So leer war es. So leise. Ich setzte mich auf die Straße und fing an zu weinen. Und dann spielte ich Mein Shtetele Belz.«

Er darf wieder Musiker sein. Ein Klezmer. »In Polen gab es uns nicht mehr. In ganz Europa nicht. Alle sind umgekommen. Nur in Amerika gibt es uns noch. Diejenigen, die noch vor dem Krieg ausgewandert sind.« Jahrelang bemüht sich Leopold, die alte Tradition wiederzubeleben. Das jüdische Festival im Krakauer Viertel Kazimierz wird dank ihm weltweit bekannt. Juden und Touristen aus der ganzen Welt kommen hierher zu Besuch. »Das Volk wurde ausgerottet. Die Musik muss die Menschen daran erinnern. Und wer sonst sollte dazu beitragen, wenn nicht ich? Sie hat mir das Leben gerettet. Ich war ihr das schuldig.«

halbschuhe Leopold läuft schnell durch den Konzertsaal, klettert auf die Bühne. Die Absätze seiner eleganten, lackierten Halbschuhe klopfen rhythmisch auf dem Holzparkett. Er zieht die Hosenträger hoch, legt noch mit der Hand seinen Haarkranz auf dem Hinterkopf zurecht und setzt sich ans Klavier. Seine Finger tanzen über die Tasten. Wenn Leopold Kozlowski spielt, schaut er in die Ferne. Er singt mit einer tiefen Stimme. Memento Moritz heißt das Lied, das von einem jüdischen Schuhmacher aus Krakau erzählt, der seine Schuhe am Klacken der Absätze erkennen konnte. Es hat ihn glücklich gemacht. Eines Tages hörte er auf der Treppe Schritte, die er nicht wiedererkennen konnte. Das waren nicht seine Schuhe. Diese Menschen haben ihn umgebracht.

Das ist genau das, sagt Kozlowski, was der Klezmer nach dem Krieg machen musste. »Die Geschichte seines Volkes erzählen. Damit man sie nie vergisst. Auch meine Mutter und mein Vater dürfen nie vergessen werden.« Er spielt Klezmer-Musik, wird musikalischer Berater in amerikanischen Filmen über Krieg und Holocaust. Sogar bei Schindlers Liste von Spielberg hat er eine kleine Rolle.

Leopold wandert durch Europa, gibt Konzerte und Unterricht. Vor allem sind es Frauen, die bei ihm lernen, wie man die traditionelle Musik singt. »Lernen kann man sie nicht. Aber nach 15 Jahren Unterricht kann man die Musik schon spüren«, sagt Leopold. »Wie man es richtig macht? Noten muss man von sich fernhalten. Und das Instrument dicht am Herzen halten. Und man spielt so, wie das Herz schlägt. Das macht die Klezmer-Musik aus.«

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