DDR

Der »König der Juden«

Foto: Chris Hartung

An Weihnachten 1959 beschmieren zwei 25-Jährige die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen. In den folgenden Wochen gibt es Hunderte Nachahmungstaten. Sie gehen als »antisemitische Schmierwelle« in die Geschichte ein. Die junge Bundesrepublik ist in den Grundfesten erschüttert und steht international am Pranger.

Der Ostblock nutzt die Gelegenheit zur Propaganda, vor allem die DDR. In einem Memorandum, das auch jüdische Schriftsteller wie Arnold Zweig und Stefan Heym unterzeichnen, wird die Bundesrepublik aufgefordert, mehr gegen den Antisemitismus im Land zu unternehmen. Ein eindrückliches Beispiel, wie Moral und Wahrheit in Diktaturen pervertiert werden. Denn erst knapp ein Jahrzehnt zuvor gab es auch im Ostblock eine antisemitische Welle. Nur war diese staatlich angeordnet und gelenkt, und sie kostete Menschenleben.

In den ersten Nachkriegsjahren bemüht man sich in der DDR und anderen osteuropäischen Staaten durchaus um Unterstützung der überlebenden Juden. Sie können ihre Religion weitgehend frei ausüben, und es wird über die Verbrechen der Schoa und über Antisemitismus aufgeklärt. Die Sowjetunion gehört 1948 zu den ersten Ländern, die Israel anerkennen, und lässt über die Tschechoslowakei sogar Waffen an den jüdischen Staat liefern. Freilich nicht nur aus altruistischen Motiven: Stalin will Israel an den Ostblock binden.

trotzkisten Aber in Osteuropa gibt es auch nicht wenige Kommunisten, die den überlebenden Juden mit einer Mischung aus mitleidlosem Unverständnis und elitärer Arroganz begegnen. In ihrer Welt begreifen sie sich als erste und wichtigste Nazi-Opfer – verfolgt aufgrund ihrer politischen Einstellung. Juden sehen sie als eher passive Opfer, verfolgt »nur« wegen ihrer Abstammung und Religion.

Im Herbst 1948 verschärft sich Stalins Haltung gegenüber den Juden massiv. Er ist entsetzt darüber, dass die erste israelische Botschafterin in Moskau, Golda Meïr, von Tausenden sowjetischen Juden jubelnd empfangen wird. Daneben zeichnet sich ab, dass sich Israel in Richtung Westen orientiert. Fortan sind die Juden für Stalin ein Risiko. Es kommt hinzu: Der ganze Ostblock ist in Unruhe, die Wirtschaft schwächelt, und Jugoslawiens Staatschef Josip Tito hat sich von Moskau distanziert. Stalin initiiert deshalb Anfang 1949 eine Säuberungswelle, die sich gegen »Abweichler«, auch »Trotzkisten« genannt, und gegen Juden richtet. Sie wird drei Jahre andauern.

Das Wort »Jude« wird zwar meist vermieden, in der gelenkten Presse und in politischen Reden ist aber vom Kampf gegen »wurzellose Kosmopoliten« und »zionistische Verschwörer« zu lesen. Jeder weiß, wer damit gemeint ist. Jüdische Schulen und Theater sowie auf Jiddisch erscheinende Zeitungen werden verboten. Von Moskau breitet sich die antisemitische Kampagne in Osteuropa aus.

Auch in der DDR jagt man »Abweichler« und Mitglieder »zionistischer und trotzkistisch-jüdischer Bewegungen« – so ein Zitat aus einem SED-Papier. Das alles im fünften Jahr nach der Befreiung von Auschwitz. In einer ersten Säuberungswelle verlieren denn auch auffallend viele Kommunisten jüdischer Herkunft ihren Posten. Aber auch solche, die sich für Juden einsetzen – zum Beispiel Paul Merker.

Merker selbst ist nicht jüdisch, kennt aber viele Juden aus der Zeit seines Exils während des Krieges. Nach 1945 macht der Sachse in der SED Karriere, wird ins Politbüro gewählt. Merker ist ein kritischer Geist, eckt oft an. Und er will, dass die von den Nazis enteigneten Juden entschädigt werden. Er ist damit der perfekte Hauptangeklagte für einen Schauprozess. Am 24. August 1950 wird Merker als »Werkzeug des Klassenfeindes« aus dem Politbüro ausgeschlossen, später als »Zionist« beschuldigt, im Interesse »jüdischer Finanzkapitalisten« zu handeln. In Verhören wird er als »König der Juden« verhöhnt.

Schauprozesse Im ganzen Ostblock gibt es nun Schauprozesse gegen »Abweichler« und »Zionisten«. Im November 1952 wird der ehemalige KP-Chef der Tschechoslowakei, Rudolf Slansky, in Prag mit zwölf weiteren Kommunisten wegen »staatsfeindlicher Verschwörung« zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zehn der Verurteilten sind Juden, auch Slansky. In Moskau wird ab 1953 ein Prozess gegen jüdische Ärzte vorbereitet, die sich gegen Stalin verschworen haben sollen.

In der DDR beginnt die Vorbereitung eines Schauprozesses gegen Paul Merker. Auch ihm droht die Todesstrafe. Doch im März 1953 stirbt Stalin, die Säuberungen enden abrupt. Aus dem Schauprozess gegen Paul Merker wird ein Geheimprozess, in dem er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wird. In Moskau rechnet 1956 Staatschef Nikita Chruschtschow mit seinem Vorgänger Stalin ab. Viele der in den Schauprozessen Verurteilten werden rehabilitiert, auch Rudolf Slansky. Im selben Jahr wird auch Paul Merker freigelassen, ihm jedoch verweigert die DDR-Führung die Rehabilitierung.

Während die Bundesrepublik wegen der »antisemitischen Schmierwelle« von nun an konsequenter gegen Antisemitismus vorgeht, legt sich über die »antisemitische Säuberungswelle« in der DDR ein Schweigen, das bis zu ihrem Untergang anhält.

Filmkritik

»Nobody Wants This« – die Zweite

Die Fortsetzung der Netflix-Hit-Serie »Nobody Wants This« ist angelaufen. Allerdings sorgen diesmal vor allem die Nebenrollen für randvolle Herzen. Vorsicht Spoiler.

 06.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  06.11.2025

Kunst

Maler und Mentor

Eine Ausstellung in Baden-Baden zeigt Max Liebermann auch als Förderer impressionistischer Kollegen

von Eugen El  06.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 06.11.2025

Film

»Vielleicht eines der letzten Zeitdokumente dieser Art«

Die beiden Regisseure von »Das Ungesagte« über ihre Doku mit NS-Opfern und ehemaligen Mitläufern, Kino als Gesprächsraum und die Medienkompetenz von Jugendlichen

von Katrin Richter  06.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 6. November bis zum 13. November

 05.11.2025

Yitzhak Rabin

Erinnerung an einen Mord

Wie ich am 4. November 1995 im Café Moment in der Jerusalemer Azza Street vom tödlichen Anschlag auf Israels Ministerpräsident in Tel Aviv erfuhr

von Ayala Goldmann  04.11.2025

TV-Tipp

»Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen«

Das Dokudrama rekonstruiert die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse vor 80 Jahren

von Jan Lehr  04.11.2025

Hollywood

Jesse Eisenberg will eine seiner Nieren spenden

Der Schauspieler hatte die Idee dazu bereits vor zehn Jahren

 03.11.2025