Philosophie

Der Grenzüberschreiter

Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin. Foto: dpa

Philosophie

Der Grenzüberschreiter

Die neue große Walter-Benjamin-Biografie von Howard Eiland und Michael W. Jennings könnte zum Standardwerk werden

von Harald Loch  18.10.2020 08:02 Uhr

An der letzten Grenze scheiterte er, obwohl seine Biografen ihm eine »selbstbewusste, ja manchmal rücksichtslose Neigung« be­scheinigen, »Grenzen zu überschreiten«. Howard Eiland und Michael W. Jennings fahren in ihrer großen Biografie über Walter Benjamin fort: »Diese Dialektik von Selbsterkundung und Erforschung der äußeren Welt bleibt für den erwachsenen Mann und sein Werk bestimmend.«

In den Pyrenäen, schon ein paar Meter im rettenden Spanien, mit Blick auf Portbou und das Mittelmeer, hieß es für einen der bedeutendsten europäischen Intellektuellen, dessen gelegentliche Spielsucht seine Biografen nicht verschweigen: »Rien ne va plus!« Vor 80 Jahren, am 26. September – die Datierung schwankt zwischen Zeugenaussagen und Kirchenbuch um einen Tag –, nahm sich dort der 1892 in Berlin geborene Benjamin das Leben. Vom Exil und der Flucht vor den Nazis erschöpft, hielt er seine Übersiedlung in die USA für gescheitert, obwohl er kurz zuvor an seinem letzten Zufluchtsort Marseille endlich ein amerikanisches Einreisevisum und Transitvisa für Spanien und Portugal erhalten hatte.

Die Biografie räumt mit alten Fehlern auf, ohne neue zu begehen.

Dieser dramatische Schlusspunkt seines Lebens ist allgemein bekannt. Inzwischen gehören auch seine zu Lebzeiten nur gelegentlich publizierten und beachteten Werke zum international rezipierten Kanon der geistes- und sozialwissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts. Insgesamt aber blieben Benjamins Leben und Werk bisher von einseitigen Zuschreibungen und Missdeutungen verzerrt. Die neue Biografie räumt mit diesen Fehlern auf, ohne neue zu begehen.

URTEILSKRAFT Eiland unterrichtet Literatur am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Jennings in Princeton, zwei Eliteuniversitäten an der amerikanischen Ostküste. Eiland hat maßgebliche Werke Walter Benjamins ins Englische übersetzt. Beide gelten als die weltweit kompetentesten Benjamin-Experten.

Ihre materialreiche Biografie geht mit der profunden Kenntnis des Werkes dieses aus einer assimilierten jüdischen Familie stammenden Intellektuellen keineswegs geizig um. Selbst abgelegene Aufsätze, Entwürfe oder auch zahlreiche Briefe sowie einzelne Anekdoten aus Benjamins sozialem Umfeld fließen in die geglückte Verbindung von Lebenserzählung und Würdigung wichtiger Werke ein.

Es entsteht dabei nicht etwa ein auf ein weiteres Schlagwort reduziertes Bild dieses vielseitigen Geistesmenschen. Seine Biografen setzen keinen neuen Begriff vor die Klammer von Leben und Werk. Vornehm laden sie den Leser ein, sich anhand ihrer Biografie und der durch sie erschlossenen Werke ein eigenes Bild von Benjamin und seiner geistigen Welt zu schaffen. Aber sie verzichten keineswegs auf Beweise ihrer Urteilskraft oder auf ein deutliches Wort zu persönlichen Eigenschaften oder Fehlern. Die ganze Biografie enthält so viele kritische Elemente, wie sie auch Verständnis für Benjamin aufbringt.

Den Autoren gelingt es zum Beispiel, aus einem kurzen Zitat aus der Zeit von Benjamins früher Hinwendung zur Jugendbewegung etwas für sein späteres Leben zu gewinnen: »Benjamins Formulierung ›eine Freundschaft der fremden Freunde‹ evoziert die Dialektik von Einsamkeit und Gemeinschaft. … Für den Rest seines Lebens hat sein Verhalten in allen zwischenmenschlichen Beziehungen diese Formulierung bestätigt.« Das gilt auch für seine nach Jahren quälender Auseinandersetzung gescheiterte Ehe mit Dora, aus der der Sohn Stefan hervorgegangen ist. Beide haben die Nazizeit im Londoner Exil überlebt.

FREUNDE Seine Freunde wählte Benjamin überwiegend aus seiner eigenen Klasse der gehobenen jüdischen Bildungsbürgerlichkeit. Die Biografie widmet sich der lebenslangen Freundschaft zu dem jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem – lange Zeit von Angesicht zu Angesicht, später, nach der Auswanderung seines Freundes nach Palästina, in ausgedehntem Briefwechsel.

Benjamins Religiosität hatte wenig mit einem Synagogenjudentum zu tun.

Benjamins Religiosität hatte allerdings wenig mit einem Synagogenjudentum zu tun. Er verband viel christliches Glaubensgut und jüdische Mystik zu seinem eigenen »Glaubensbekenntnis«. Ähnlich war es mit seiner Beziehung zum Marxismus, speziell zum Kommunismus, die er nach einem Besuch in Moskau geschärft hatte. Man muss sich Benjamins Kommunismus als einen vorstellen, der Menschen wie ihm einen würdigen Platz einräumte. Alles das kommt in der geistreich geschriebenen, von Irmgard Müller hervorragend übersetzten Biografie in zeitgeschichtlichem Zusammenhang immer wieder zur Sprache.

Benjamin verband christliches Glaubensgut mit jüdischer Mystik.
Gewicht bekommen die Jahre des Exils in Paris. Die Autoren gehen in interessante Details, wenn sie dem mit Hannah Arendt und ihrem Mann Heinrich Blücher gemeinsamen Erlernen der englischen Sprache zur Vorbereitung der Auswanderung in die USA oder dem Treffen mit Bertolt Brecht und Helene Weigel mehr als nur eine Fußnote widmen.

REZEPTION Die Autoren stellen alle wichtigen Werke Benjamins in ihrem Entstehungszusammenhang – oft als jahrelanges »work in progress« – und ihre seinerzeit oft schleppende Rezeption dar: Seine in Bern eingereichte Dissertation zur Kunstkritik in der deutschen Romantik enthält bereits Grundsätzliches für spätere Werke. Seine Baudelaire-Studien gewinnen die Bedeutung, die der Franzose für Benjamin zeitlebens hatte. Die intellektuellen Großessays über Goethes Wahlverwandtschaften, über das deutsche Trauerspiel, seine Einbahnstraße erscheinen in dieser Biografie teilweise in neuem Licht.

Schwerpunkte der Darstellung bilden der bahnbrechende Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, seine Erinnerungen an seine Kindheit in Berlin um 1900 und die über ein Jahrzehnt währende Arbeit am unvollendet gebliebenen, aus Miniaturen zusammengewachsenen Passagen-Werk. Die Auseinandersetzungen und die Zusammenarbeit mit dem vor den Nazis nach New York umgezogenen Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno behandeln die Autoren ohne die aufgeladene Besserwisserei manch früherer Interpreten.

Diese hervorragende Biografie war notwendig und wird als Standardwerk das Bild Walter Benjamins für unsere Zeit bestimmen. Sie lädt – wie ihre Autoren anregen – zu vertiefendem Lesen vor allem der Originale ein. 80 Jahre nach seinem Tod ist Walter Benjamin hochaktuell geblieben.

Foto: PR

Howard Eiland und Michael W. Jennings: »Walter Benjamin. Eine Biographie«. Aus dem Englischen von Irmgard Müller. Suhrkamp, Berlin 2020, 1021 S., 58 €

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