Frankreich

Der Empörte

Weihnachtstage und Jahreswechsel gelten als Zeit der inneren Einkehr und der Besinnung auf im Alltag vergessene Werte. Dazu passend erschien Ende vorigen Jahres im französischen Buchhandel ein moralischer Katechismus besonderer Art, der auf 14 Seiten so ziemlich alles anprangert, was auf Erden politisch zu beklagen ist. Indignez-vous!, »Empört Euch!«, heißt das Manifest, das sich zum Star des Weihnachtsgeschäfts gemausert hat und seit Wochen die Bestsellerlisten anführt, wobei die Verkaufsauflage bald durchaus an Sarrazinsche Dimensionen heranreichen könnte.

menschenrechtsikone Dass das Büchlein nicht wie andere Erbauungsschriften in der Ramschkiste oder der Esoterikabteilung vergilbt, sondern prominent an den Kassen ausliegt und sogar in Supermärkten verkauft wird, verdankt sich zum einen der speziellen politischen Situation des linksrheinischen Nachbarn, zum anderen aber auch der Person des Autors, des 93 Jahre alten Stéphane Hessel, der in Frankreich aufgrund seiner beeindruckenden Biografie fast schon den Status einer Legende genießt.

In Berlin als Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel geboren, dessen turbulente Ehe als Vorlage für Truffauts Film Jules et Jim diente, wanderte der junge Stephan mit seinen Eltern schon in den 20er-Jahren nach Frankreich aus und schloss sich während der deutschen Besatzung der Résistance um Charles de Gaulle an. Von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert, gelang ihm von dort die Flucht.

Nach Kriegsende wurde Hessel französischer Botschafter bei den Vereinten Nationen und wirkte an der Ausarbeitung der UN-Menschenrechtserklärung mit. Weitere diplomatische Stationen folgten. Gleichzeitig meldete Hessel sich immer wieder als humanitärer Mahner und Warner in der französischen Öffentlichkeit zu Wort. Zusammen mit dem sanften, durch seine Courtoisie beinahe anachronistisch anmutenden Habitus, macht ihn die von seiner Vita ausstrahlende Würde zu einem Gegenentwurf des unglücklichen Präsidentendarstellers Sarkozy. Anders als seine Vorgänger wollte dieser nicht parteiübergreifender Wahlmonarch sein, sondern modernisierender Manager.

Nach der Wirtschaftskrise, einer brachialen Rentenreform und diversen Affä ren hat der Staatspräsident sich mit diesem Versuch mittlerweile vollends blamiert. Die von vielen Franzosen gewünschte Rolle moralischer Autorität kann Sarkozy nach seinen politischen Kapriolen kaum noch spielen.

konsenspapier Da eignet sich die Menschenrechtsikone Hessel wie kaum ein anderer, das Vakuum zu füllen. Und tatsächlich steigt er freimütig auf die Kanzel, um seinen Mitbürgern mit Indignez-vous! die Leviten zu lesen: Die Schere zwischen Arm und Reich reiße immer weiter auf, die Sozialsysteme würden demoliert, Flüchtlinge abgeschoben, natürliche Ressourcen verheizt, Manager kriegten den Hals nicht voll und die Politik ducke vor dem Diktat der internationalen Finanzmärkte.

Vieles an Hessels Klage ist bekannt. Er beschwört die alten sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatskonzepte, die auch in der Antiglobalisierungsbewegung propagiert werden. Nun hat die Globalisierungskritik als politische Kraft in Frankreich allerdings ebenso abgewirtschaftet wie in Deutschland.

Dass Hessels Thesen dennoch ein solches Publikum finden, hängt mit der geschickten Verknüpfung seiner Argumente mit dem Gründungsmythos Nachkriegsfrankreichs zusammen. Durch seine Biografie mit Deutungshoheit ausgestattet, stilisiert Hessel den Akt der Empörung über gesellschaftliches Unrecht, den es heute wiederzubeleben gelte, zum Grundmotiv der historischen Résistance und lässt so alle Wutbürger ein bisschen Widerstandskämpfer sein.

Darüber hinaus zitiert er als Kontrast zum heutigen Werteverlust immer wieder das programmatische Manifest der Résistancegruppen, das als eine Art Gründungsdokument des neuen Frankreich gilt und durch die Verbindung von Gaullismus und Parteikommunismus unverkennbar staatswirtschaftliche Züge trägt. Mit der so gestimmten Klaviatur moralischer Empörung über den Abfall von den Grundfesten der Nation entsteht aus Hessels Thesen, die ohnehin nicht besonders viel Einspruch fürchten müssen, ein Konsenspapier.

israelkritik Noch ein anderer unguter Konsens lässt sich in dem Büchlein finden. Besonders empörenswert findet Hessel nämlich die »Apartheidspolitik« Israels. Zwei der 14 Seiten sind der Situation der Palästinenser gewidmet. Es ist nicht das erste Mal, dass der Menschenrechtsstreiter durch rabiate und einseitige Israelkritik auffällt. Die Abgrenzung von dem kleinen Staat im Nahen Osten hat sich schon länger zu einer Art Hauptmission des Ex-Diplomaten entwickelt.

So ist Hessel der wohl bekannteste französische Unterstützer der Boykottinitiative gegen Israel, der als unerbittlicher Pazifist den bewaffneten Widerstand der Palästinenser zwar nicht gutheißen, aber zumindest »verstehen« kann. Ob er die Hamas, mit der er Verhandlungen fordert, auch für vom Empörungsgeist der Résistance beseelt hält, bleibt in dem Buch glücklicherweise ausgespart. Für Frankreichs jüdischen Dachverband CRIF ist Hessel deshalb mittlerweile ein rotes Tuch. Weil er seine Thesen immer milde lächelnd vorträgt und allseits hofiert wird, versuchen seine jüdischen Kritiker, den rüstigen Senior als Hetzer und Extremisten zu »enttarnen« und gar rechtlich gegen ihn vorzugehen.

Es sind allerdings Zweifel über die prinzipielle Wirkungsmacht des Bändchens angebracht. Denn so ehrenwert die Problematisierung der gesellschaftlichen Misere wirkt, so wohlfeil ist das Angebot ihrer Beseitigung durch die Beschwörung politischer Rezepte, die nicht ohne Grund an ihre Grenze gestoßen sind. Da Hessel die Komplexität heutiger Konflikte nirgends in den Blick nimmt, wird sich mit seinem Manifest auch nichts ändern lassen.

Aber das wollen seine Käufer auch gar nicht: Statt Pralinen bekommen sie für drei Euro diesmal eine etwas andere Geschenkbeigabe. Hessel bietet ihnen Empörung im Handtaschenformat. Sein Evangelium für Gutmenschen wird denn später auch an seinem gebührenden Platz landen: im Karton mit den Weihnachtspostkarten.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert