Studie

Der Chili-Junge

Wie ein Elfjähriger mit einer einzigartigen Genmutation zum Hoffnungsträger in der Schmerzforschung wurde

von Lilly Wolter  28.03.2023 21:22 Uhr

Foto: Getty Images

Wie ein Elfjähriger mit einer einzigartigen Genmutation zum Hoffnungsträger in der Schmerzforschung wurde

von Lilly Wolter  28.03.2023 21:22 Uhr

Was scharfes Essen betrifft, scheiden sich die Geister. Es gibt Menschen, die an Schärfe-Wettbewerben teilnehmen, und jene, die schon bei kleinsten Chili-Mengen ein Essen für unverzehrbar erklären. Dass das Schmerzempfinden von Mensch zu Mensch variiert, ist bekannt.

Aber dass ein palästinensischer Junge Berichten zufolge komplett schmerzfrei große Mengen scharfer Chili-Schoten verzehren kann, überrascht dann doch. Israelische Forscher fanden nun heraus, warum das so ist. Ihre Ergebnisse könnten außerdem zu bahnbrechenden Fortschritten in der Schmerzforschung führen.

Bereits seit seinem dritten Lebensjahr soll der Elfjährige problemlos extrem scharfe Chili-Schoten verzehrt haben. Dessen Mutter ging eines Tages besorgt zu einem Arzt im Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem, doch Antworten erhielt sie erst, nachdem ihr Arzt einen Vortrag des Professors und Biochemikers Baruch Minke von der Hebräischen Universität Jerusalem besucht hatte.

zufall Es war ein glücklicher Zufall, denn Minke sprach in seinem Vortrag über eine Proteinfamilie, die er entdeckt und TRP genannt hatte. In der Schmerzforschung spielt diese eine entscheidende Rolle, insbesondere im Zusammenhang mit Chili-Schoten. Erst 2021 erhielt der Molekularbiologe David Julius von der University of California in San Francisco den Medizin-Nobelpreis, weil er ein Protein innerhalb dieser Familie fand, das durch Capsaicin, den scharfen Inhaltsstoff der Chili-Schote, aktiviert wird. Es trägt den Namen TRPV1.

Das wusste Baruch Minke und war entsprechend begeistert, als er von dem Chili-Jungen erfuhr. »Ich wusste, dass das TRPV1-Protein durch Capsaicin aktiviert wird. Und die Tatsache, dass er das scharfe Gefühl nicht spürt, wenn er Chili isst, ließ mich sofort an einen Defekt in diesem Molekül denken«, berichtet der Forscher im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.

Bereits seit seinem dritten Lebensjahr soll der Elfjährige problemlos extrem scharfe Chili-Schoten verzehrt haben.

Er erklärte auch, dass David Julius all seine TRPV1-bezogenen Schmerzexperimente aus offensichtlichen Gründen nur an Nagetieren durchführen konnte. Es war der Chili-Junge, der menschliche Untersuchungen in diesem Feld möglich machte. Minke und sein Forschungsteam nahmen sich der Sache schließlich an. Die Ergebnisse ihrer fünfjährigen Studie erschienen nun in dem renommierten »Journal of Clinical Investigation«.

schmerz »Wir fanden heraus, dass er eine einzigartige Mutation in diesem TRPV1-Protein hat. Er ist der einzige bekannte Mensch mit einer solchen Mutation«, so Minke, der auch die gesamte Familie des Jungen untersuchte. Das Ergebnis: Die Mutation fand sich bei fast allen Familienmitgliedern. Doch nur bei dem Elfjährigen blieb der Schmerz aus, was sich dadurch erklärt, dass sowohl sein Vater als auch seine Mutter die Mutation an ihn weitergaben. Beim Rest der Familie zeigte sich das Phänomen nicht, weil sie das mutierte Gen nur zur Hälfte in ihrem Erbgut trug.

Das Ganze ist vor allem deswegen interessant, weil es »ein Problem bei der Herstellung von selektiven Schmerzmitteln« gebe, erklärt Minke. Bislang nehmen Menschen entweder Opiate oder Entzündungshemmer ein, mit allen möglichen Nebenwirkungen. Der Chili-Junge habe daher etwas, das Pharmaunternehmen verzweifelt suchen.

Noch bevor sein Fall bekannt wurde, begannen Pharmaunternehmen mit der Entwicklung von Anti-TRPV1-Medikamenten, die rückblickend die Mutation des Jungen nachahmten. Diese Bemühungen wurden vor allem durch die Arbeit von David Julius angestoßen. Doch es gab ein Problem: Die Medikamente ließen die Körpertemperatur der Probanden um zwei Grad ansteigen, was bei Menschen schwere Folgen haben kann. Die Experimente wurden daraufhin gestoppt.

Der Chili-Junge ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert, denn die Mutation seines TRPV1-Proteins ist bei ihm mit einer normalen Körpertemperatur gepaart. Er steht damit für die Hoffnung auf neue Anti-TRPV1-Schmerzmittel – frei von gefährlichen Nebenwirkungen.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert