Dan Wolf

Der Amerikaner mit dem Tüdelband

Als Dan Wolf im Jahr 2000 das erste Mal nach Hamburg kam, war er nervös. Seine Angst habe dominiert, sagt er heute. Der damals 25-Jährige konnte nicht abschätzen, wie es sich anfühlen würde, jene Stadt zu besuchen, in der sein Urgroßvater Leopold Wolf und dessen Brüder vor mehr als 100 Jahren Geschichte schrieben. Eine Geschichte, die im Jahr 2000 noch immer lebte und doch eine schlummernde war.

Die Gebrüder Wolf waren im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts regelrechte Superstars. Mit ihrem plattdeutschen Couplet »An de Eck steiht’n Jung mit’n Tüdelband«, das im Lauf der Jahrzehnte immer wieder neu interpretiert und abgewandelt wurde, legten sie den Grundstein für einen Ohrwurm, der bis heute als geheime Hymne Hamburgs gilt. Sie waren aber nicht nur Liedermacher, auch das Operettentheater auf St. Pauli und das Varieté-Theater am Besenbinderhof waren einst im Besitz der Wolf-Brüder, die sich ohne den zunehmenden Antisemitismus sicher nach ihrem Geburtsnamen Isaac betitelt hätten.

rückkehr Ursprünglich bestehend aus Ludwig, Leopold und James, waren es ab 1906 nur noch Ludwig und Leopold, die zusammen als »Wolf-Duo« auftraten. Doch 1911 kehrte James, der 1943 im KZ Theresienstadt ermordet wurde, noch einmal zum Trio zurück. Ein entscheidender Schritt, denn James und Ludwig schrieben bei dieser letzten, musikalischen Zusammenkunft die fünf Strophen des so legendären Tüdelband-Textes, von dem vor allem die zweite Strophe übrig geblieben ist. Sie bildet heute die erste Strophe.

1917 wurde das Lied erstmalig in einem Café nahe des Hamburger Bahnhofs aufgeführt. Die Jungs von der Waterkant hatten damit die hanseatischen Herzen endgültig erobert. Aber sie waren jüdisch und ihr Erfolg den Nationalsozialisten schon bald ein Dorn im Auge.
Leopold Wolf, der schon 1926 starb, wurde im Wolf-Trio später durch seinen Sohn James Iwan Wolf ersetzt.

In dieser Besetzung traten sie bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 auf. Danach wurden Auftritte für die Gebrüder Wolf zunehmend schwer. 1939 folgte das endgültige Auftrittsverbot. Anschließend wurde ihr Werk als »deutsches Liedgut« vereinnahmt.

flucht Dass Dan Wolf dieser Zeitung heute ein Interview geben kann, ist den mutigen Söhnen von Leopold zuzuschreiben. James Iwan Wolf und sein Bruder Donat flohen 1939 nach Shanghai und von dort aus 1947 in die USA. Donat Wolf ließ sich schließlich in San Francisco nieder, wo auch sein Enkel Dan – heute 47 Jahre alt – aufwuchs und nahezu instinktiv in die Fußstapfen seiner berühmten Vorfahren trat. »Als ich zehn Jahre alt war, sah ich mir ein Theaterstück an und verliebte mich in die Kunstform der Schauspielerei. Ich wollte auch Schauspieler werden.« Später absolvierte er eine Ausbildung am PCPA Pacific Conservatory Theatre, knapp 500 Kilometer südlich von San Francisco.

Es faszinierte ihn, dass ein Lied 100 Jahre Krieg, Terror und Völkermord überstehen kann.

Dan hatte sich, anders als seine Eltern, die Kaufleute waren, für ein Leben als Künstler entschieden. Und als solcher begann er schließlich, den Spuren seiner Familie zu folgen. Er wuchs im Beisein seiner Großeltern auf, fern lag die Geschichte daher nie, aber »das Schweigen war ein ziemlich großer Teil der Geschichtsüberlieferung«.

1999 war das Schweigen schlagartig vorbei. Dan war damals 25 Jahre alt, als ihm seine Großmutter einen 42 Seiten langen Brief überreichte. Sein Opa Donat hatte ihn über einen Zeitraum von sieben Jahren verfasst – von 1977 bis 1984. »Er wollte mir und meiner Schwester sagen, warum er Deutschland, warum er Hamburg verlassen hatte und wer er als junger Mann war. Ich glaube, gegen Ende seines Lebens wusste er, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.« Opa Donat starb, als Dan zehn Jahre alt war.

wendepunkt »Es war, als ob mein Großvater aus dem Grab zu mir sprechen würde. Der Anfang des Briefes war völlig dramatisch. Er begann mit den Worten: ›An meine Enkelkinder, ich schreibe euch diesen Brief zu einem Zeitpunkt, an dem ihr hoffentlich nicht nur in der Lage sein werdet, die Worte zu lesen, sondern auch zu verstehen, was ich euch damit sage.‹« Diese Zeilen waren ein Wendepunkt in Dans Leben: »Mir fiel die Kinnlade runter. Als Schriftsteller, als Bühnenautor wusste ich sofort: Das ist mein nächstes Stück!« Und dieses realisierte er 2006 tatsächlich. Es trug den Titel Stateless und handelte von dem Gefühl, welches sich wie ein roter Faden durch seine Familie zog: das Gefühl der Staatenlosigkeit.

Auf den bewegenden Brief seines Großvaters folgte nur wenige Monate später eine überraschende Kontaktaufnahme aus Hamburg. Es war der Filmemacher Jens Huckeriede, der sich mit jüdischen Liedern seiner Heimatstadt befasste und der Geschichte des Tüdelband-Couplets nachging. Er hatte vor, einen Dokumentarfilm zu drehen. Doch Dan war skeptisch: »Ich bin mit einem gesunden Misstrauen gegenüber allem, was deutsch ist, aufgewachsen.« Auch den Brief seines Großvaters erwähnte er zunächst nicht.

Aber Jens Huckeriede gab nicht nach und reiste nach San Francisco, wo er erfuhr, dass Dan nicht nur wie seine Hamburger Vorfahren Theater macht, sondern auch rappt. »Seine Augen leuchteten auf, weil er bereits verstanden hatte, dass die Gebrüder Wolf schon vor 100 Jahren das gleiche wie Hip-Hop-MCs auf der Straße taten. Sie freestylten und reimten.«
Dan wurde schließlich zum Hauptpro­tagonisten des 2003 erschienenen Films Return of the Tüdelband, mit dem Huckeriede neue Formen des Erinnerns erforschte.

schmerz Der damals 26-jährige Amerikaner begibt sich in der Doku auf die Reise nach Hamburg. Er findet heraus, dass seine Vorfahren überall in der Stadt auftraten und die Spuren ihrer Geschichte direkt unter der Oberfläche der Tatsache lagen, dass jeder das Lied kannte. Dan stand also plötzlich auf den Straßen, wo schon sein Urgroßvater Leopold als junger Mann Musik machte. Er tat es ihm an diesen historischen Orten gleich und rappte über seine Familie und den Schmerz, den diese Reise hervorbrachte.

In der Familie Wolf wurde lange über die Geschichte geschwiegen.

Für Dan schloss sich damit ein Kreis. Auch in die Hansestadt verliebte er sich. »Da war einfach etwas, das mir sehr vertraut vorkam«, erinnert sich der 47-Jährige, der auch von dem Moment erzählt, in dem er wirklich verstand, wie bedeutend das Tüdelband-Lied für Hamburger noch heute ist. Als er es in der Fußgängerzone sang, erkannten es die Leute um ihn herum auf Anhieb, sie tanzten, sangen mit und liefen schließlich mit einem Ohrwurm davon. Dass ein Lied 100 Jahre Krieg, Terror und Völkermord überstehen und Kulturen wieder miteinander verbinden kann, faszinierte den Amerikaner damals wie heute.

Erinnerungskultur Die künstlerische Erarbeitung neuer Erinnerungskulturen sollte fortan das Lebensthema des Wolf-Urenkels werden. Seit 2011 arbeitet Dan im Rahmen seines Projektes »Sound in the Silence« mit Künstlern, Schulen, Studierenden und vielen anderen Akteuren zusammen, um die Schoa insbesondere für Jugendliche auf kreative Weise greifbar zu machen.

Sein Ansatz: »Die Menschen müssen eine persönliche Verbindung zur Geschichte herstellen, damit diese für sie eine Bedeutung hat.« Von den üblichen Gedenkstättenfahrten hält er nicht viel: »Es gibt dort keine Möglichkeit, seine Gedanken und Gefühle zu artikulieren. Wir machen genau das Gegenteil.« In seinen Workshops verbringen Jugendliche meist mehrere Tage in Gemeinden in der Nähe ehemaliger Konzentrationslager wie Ravensbrück, Auschwitz oder Stutthof. Oft gemeinsam mit Überlebenden. Ein Ansatz, der nicht nur auf Zustimmung stößt.

Die Überlebenden Emmie Arbel, Selma van de Perre, Judit Varga und Batsheva Dagan waren 2018 Teil eines solchen Workshops. Sie alle waren im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Zusammen mit dem Grammy-Preisträger Tommy Soulati Shepherd entwickelte Dan damals die Idee, diese vier Frauen mit einem Song zu würdigen. Heraus kam der Titel »Echoes (Four Women)«, der Anfang dieses Jahres erschien.

schweigen Dan hat dem Schweigen nicht nur als Künstler ein Ende gesetzt, sondern auch in seiner Rolle als Vater. Und doch begann er erst vor Kurzem, seiner Tochter (11) und seinem Sohn (14) ausführlich von den Gebrüdern Wolf zu erzählen. »Es geht immer darum, auf den Moment zu warten, in dem junge Menschen bereit und offen sind, zuzuhören. Man kann nicht einfach auf sie einreden.«

Der richtige Moment war gekommen, als seine Kinder Fragen stellten. Ob es auch eine Frage gibt, die Dan heute seinem Urgroßvater Leopold Wolf stellen würde? Ja, die gibt es, sagt er. »Ich würde fragen: Was denkst du über die Art, wie ich arbeite? Bist du cool damit?«

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