Biografen

»Dein Bruder Hiob«

Gegen Stalin und Hitler: Werner Scholem Foto: Dietz Verlag

Biografen

»Dein Bruder Hiob«

Mirjam Zadoff und Ralf Hoffrogge erzählen das tragische Leben des KPD-Politikers Werner Scholem

von Wolf Scheller  06.10.2014 17:36 Uhr

Am 17. Juli 1940, wenige Tage, nachdem man ihn im KZ Buchenwald zur Arbeit in den Steinbruch versetzt hatte, wurde der Gefangene vom SS-Hauptscharführer Johannes Planck zu einem gemeinsamen Spaziergang aufgefordert. Nach etwa zehn Minuten, so wird berichtet, zog Planck seinen Revolver aus dem Halfter und schoss den Gefangenen von der Seite nieder.

Werner Scholem, in der Frühzeit der Weimarer Republik einer der bekanntesten Politiker der KPD, starb wenige Monate vor seinem 45. Geburtstag. Der ehemalige Reichstagsabgeordnete und dem trotzkistischen Flügel der KPD nahestehende gebürtige Berliner hatte seine letzten Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern verbracht, bevor er in Buchenwald ermordet wurde.

Scholem, behaftet mit dem dreifachen Makel – Jude, Kommunist und Intellektueller – wurde bereits im Frühjahr 1933 von den Nazis in »Schutzhaft« genommen, obwohl in mehreren Verfahren der Vorwurf des Hochverrats nicht erhärtet werden konnte.

Brüder Zwei Biografien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, widmen sich jetzt dem Lebensweg dieses Ausnahmepolitikers, dem die Historikerin Mirjam Zadoff ein »bewegliches Naturell« bescheinigt, ihn zugleich aber auch in eine Hiob’sche Leidensapotheose befördert. Ganz anders die nüchterne, ausnahmslos an Fakten orientierte Darstellung des Historikers Ralf Hoffrogge, dessen politische Biografie nahezu lückenlos die verzweigten Lebenslinien Scholems in den Kontext ihrer Zeit einordnet. Das Verdienst beider Biografien besteht nicht zuletzt darin, dass hier erstmals eine Persönlichkeit in den Mittelpunkt gestellt wird, die in ihrer geistigen und politischen Wirkung die innere Zwiespältigkeit der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen verkörpert.

Werner Scholem – Fotos zeigen einen zart wirkenden Intellektuellen – war Sohn eines jüdischen Unternehmers in Berlin. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder war der Religionshistoriker Gershom Scholem. Wegen seines frühen politischen Engagements kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Werner und seinem deutschnational denkenden Vater. Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs musste Werner an das Gildemeistersche Institut in Hannover wechseln, wo er wenige Monate mit Ernst Jünger die Schulbank drückte. Im hohen Alter erinnerte sich der Schriftsteller an die »intelligente Physiognomie« seines jüdischen Klassenkameraden, auch an dessen Ironie, mit der er die Kampfbegeisterung Jüngers kommentierte.

Werner ging zur sozialistischen Arbeiterjugend, wurde als Soldat an die Front geschickt und verwundet. An Kaisers Geburtstag demonstrierte er in Uniform gegen den Krieg und wurde wegen Majestätsbeleidigung und Aktivitäten gegen den Krieg zeitweise inhaftiert. Dass er auf diese Weise zum Enfant terrible der Familie wurde und sein Bruder Gershom ihn auch noch gegen den Vater verteidigte, brachte in diesem assimilierten Milieu das Fass zum Überlaufen. Jetzt wurde auch Gershom vor die Tür gesetzt.

Partei Werner Scholem trat 1917 der USPD bei und arbeitete ab 1919 in Halle als Redakteur des »Volksblatts«. Nach dem Wechsel zur KPD schloss er sich dem linken Flügel der moskautreuen Partei an. Scholem wurde Abgeordneter im Preußischen Landtag, wo er sich in den Debatten über die wachsende Zuwanderung von Juden aus dem Osten wüsten antisemitischen Anwürfen ausgesetzt sah, sich aber als brillanter Redner tapfer zu behaupten verstand. Mehrfach bekräftigte er in diesen Auseinandersetzungen seine Herkunft mit den Worten »ein deutscher Jude wie ich«.

In den folgenden Jahren wurde Scholem Organisationsleiter der KPD für das gesamte Reichsgebiet und gehörte von 1924 bis 1928 dem Reichstag an. 1926 wurde er aus der KPD ausgeschlossen, weil er die Dominanz des Stalinismus in der Komintern strikt ablehnte. In dieser Phase bekam er den Antisemitismus der ehemaligen Genossen am eigenen Leib zu spüren. Nicht nur, dass er den meisten intellektuell weit überlegen war. Vor allem aber war er Jude. In diesen Jahren des latent drohenden Bürgerkriegs beschränkten die politischen Parteien die Anzahl ihrer jüdischen Reichstagsmitglieder – mit Ausnahme der SPD, die bis zum Schluss auf ihrer Reichstagsliste etwa zehn Prozent Juden behielten.

Eine bezeichnende Illustration des Sinneswandels findet sich in dieser Zeit bei der KPD: Unter ihren 64 Reichstagsabgeordneten befanden sich 1924 noch sechs Juden; 1932 war kein einziger mehr übrig. Die Kommunisten zögerten auch nicht, antisemitische Parolen zu verwenden, wenn sie sich davon Wirkung bei potenziellen Wählern erhofften.

Während Gershom Scholem sein Heil in Palästina suchte und fand, »wanderte« sein Bruder Werner von einem Gefängnis ins andere, von einem KZ ins nächste. Ernst Jünger argwöhnte 1975 in einem Brief an Gershom Scholem, sein Klassenkamerad habe seinerzeit wohl die Chance verpasst, rechtzeitig Deutschland zu verlassen. Gershom Scholem wiederum berichtete in einem Brief an Walter Benjamin von den vergeblichen Bemühungen der Familie, die Freilassung des Inhaftierten zu erreichen.

Gegenpol In einem Brief von Werner aus der Haft an seinen Bruder mit der Unterschrift »Dein Bruder Hiob« heißt es: »Ich bin in doppelter Weise getroffen als Jude und als ehemaliger Politiker.« Illusionen machte sich Werner Scholem nach der Machtergreifung der Nazis nicht. Ernst Jünger, fast 100-jährig, notierte am 4. Juli 1995 in seinem Tagebuch: »Warum erschien mir am Morgen Werner Scholem – seine Präsenz ging über das Traumhafte hinaus …« War Scholem für den Rechtskonservativen Ernst Jünger eine Art Gegenpol, ein »abenteuerliches Herz« der Gegenseite?

Unbeantwortet bleibt die Frage, ob es bei Werner Scholems Schicksal nicht auch um den Vorwurf der Spionage ging, um die sogenannte Hansa-Zelle, die sich der Ausspionierung der Reichswehr im Dienst der Sowjetunion widmete. Könnte es sein, dass Werner Scholem, der zeitweise mit Marie Louise von Hammerstein befreundet war, die mit ihrer Schwester – beide Töchter des Generals Kurt von Hammerstein-Equord – für die Sowjetunion spionierte, deren Agentenführer gewesen ist? Darüber ist viel spekuliert worden. Sowohl Hoffrogge als auch Zadoff verbannen solche Vermutungen ins Reich der Fabel, auch wenn sich namhafte Autoren immer wieder mit diesem Thema beschäftigt haben.

Hinter solchen Spekulationen verblasst dann Scholems Einsatz für eine gerechtere Welt, auch sein Ringen um eine Verbindung von Judentum und Sozialismus. Wer sich über den gelebten Idealismus dieses einsamen Revolutionärs informieren will, wird ihm nach der Lektüre dieser beiden Biografien den Respekt nicht versagen können.

Mirjam Zadoff: »Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem« Hanser, München 2014, 384 Seiten, 24,90 €

Ralf Hoffrogge: »Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940)« UvK, Konstanz 2014, 496 Seiten, 24,99 €

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