Film

Subtiler Beobachter

In seinen frühen Filmen nahm der Regisseur den Körper buchstäblich auseinander. Spätere Erfolge wie »Die Unzertrennlichen« und »Dunkle Begierde« stehen für einen sensiblen Blick in seelische Abgründe

von Manfred Riepe  14.03.2023 08:15 Uhr

David Cronenberg Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

In seinen frühen Filmen nahm der Regisseur den Körper buchstäblich auseinander. Spätere Erfolge wie »Die Unzertrennlichen« und »Dunkle Begierde« stehen für einen sensiblen Blick in seelische Abgründe

von Manfred Riepe  14.03.2023 08:15 Uhr

Ein Wissenschaftler mutiert zur Fliege. Und empfindet dabei eine fiebrige Form von Lust. Schreibmaschinen verwandeln sich in sprechende Käfer. Und der Autounfall wird zum ultimativen Orgasmus. Nein, das ist nicht der falsche Film.

Mit diesem Körperhorror kultiviert David Cronenberg einen Grenzgang zwischen Genrekino und Autorenfilm, und das seit 50 Jahren. Am Mittwoch wird der kanadische Regisseur, Schauspieler und Schriftsteller 80 Jahre alt. 2018 zeichneten ihn die Filmfestspiele von Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Gesamtwerk aus.

Seine Großeltern, alle vier, waren litauische Juden.

Wie kommt man nur auf solch abstruse Körperfantasien? Das fragten sich irritierte Kritiker, die sich in den 1970er-Jahren in Cronenberg-Filme wie »Parasitenmörder« und »Rabid - Der brüllende Tod« verirrten. Der Regisseur wurde 1943 in Toronto als Sohn einer Pianistin und eines Schriftstellers geboren. Seine Großeltern, alle vier, waren litauische Juden. Einst sagte Cronenberg, er sei in einer säkularen jüdischen Familie aufgewachsen. Ihm zufolge kamen »religiöse Fragen« schlicht nicht zur Sprache, was aber keineswegs eine Geringschätzung derselben bedeutet hätte.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Intensität Er studierte zunächst Biologie, wandte sich aber bald Kunst und Literatur zu. Der Beginn seiner Karriere fiel mit dem Boom brutaler Horrorfilme zusammen. Und so kultivierte der Kanadier zunächst auch dieses Image: Ein Promotion-Foto zeigt ihn mit Filmdosen seiner frühen Werke, aus denen Blut quillt. Oft griff er auf Sujets wie Vampirismus, Telepathie sowie auf blutige Spezialeffekte zurück. Im Gegensatz zu konventionellen Genrefilmen entwickelten seine Visionen aber eine ganz andere Intensität.

Der Tod seines Vaters, der 1973 nach langjähriger Leidenszeit starb, sensibilisierte den Regisseur für jenes prekäre Verhältnis zwischen Körper und Geist, das seine Filme prägen sollte. Cronenberg interpretierte die aus der Schauerromantik bekannte Figur des verrückten Wissenschaftlers neu. Seine Filme erzählen von Chirurgen, Pharmakologen und Gynäkologen. Sie alle variieren das gleiche Projekt: Die Triebhaftigkeit des menschlichen Körpers soll mit wissenschaftlichen Methoden optimiert werden. Doch der Körper, meist der weibliche, wehrt sich. Er bildet psychosomatische Mutationen aus: das »neue Fleisch« - Cronenbergs Kernthema.

Cronenberg wuchs in einer säkularen jüdischen Familie auf.

In »Shivers«, so der Originaltitel seines Langfilmdebüts von 1975, erzählt der Kanadier von einem Biologen, der einen neuartigen Parasiten züchtet. In den menschlichen Körper implantiert, soll dieses handgroße, wurmartige Lebewesen die Funktionen defekter Organe übernehmen und chirurgische Eingriffe überflüssig machen. Wären da nicht die Nebenwirkungen. In einem Luxus-Apartmenthaus verlieren Bewohner jegliche Scham und stürzen sich in eine seltsame Orgie.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

SchockartigE HORRORBILDER Solche nie zuvor im Kino gesehenen Szenarien wirken verstörend, weil sie von einer systematisch zu Ende gedachten wissenschaftlichen Rationalität beseelt sind. Schockartige Horrorbilder - wie jene Zeitlupenaufnahme eines detonierenden Schädels in »Scanners« - sind in Cronenbergs Werk jedoch allmählich einem meditativen Tonfall gewichen.

Das Motiv der Halluzination variierte er in »Videodrome« und »Die Unzertrennlichen«, einer Geschichte eines Zwillingspaares in gegenseitiger psychologischer Abhängigkeit. Cronenbergs Filme wurden zu wuchernden Bildgeschwüren. In »Naked Lunch« nach William S.
Burroughs gleichnamigem Kultroman verschwimmt die Grenze zwischen filmischer Realität und Drogenwahrnehmung vollends.

Während der 90er-Jahre steuerte das einstige Enfant Terrible dem Höhepunkt seines Schaffens zu. In »Crash« (1996), der gleichnamigen Adaption des Romans von J.G. Ballard, stellt ein Guru mit seinen Jüngern spektakuläre Verkehrsunfälle nach, die Prominente wie James Dean »unsterblich« machten.

Homöopathische Zutat Diese Bildwelten wurden ab den 2000er-Jahren zunehmend zahmer und glatter. In »Eine dunkle Begierde«, einem Film über die übergriffige Beziehung zwischen dem Psychoanalytiker C.G. Jung und seiner Patientin Sabina Spielrein, ist das Cronenberg-Gefühl nur noch eine homöopathische Zutat.

Mit seiner vorerst seiner letzten Regiearbeit »Crimes of the Future« aus dem vergangenen Jahr griff Cronenberg auf den programmatischen Titel eines Experimentalfilms zurück, den er bereits 1970 realisiert hatte: Die düstere Zukunftsvision ist eine Art Wiederaufnahme seines Gesamtwerks.

Beseelt wird sein filmisches Universum von namhaften Schauspielern wie Jeremy Irons, Ralph Fines und Viggo Mortensen. Als Nebendarsteller trat Cronenberg gerne auch selbst vor die Kamera, um sein Image zu ironisieren. Weniger bekannt sind seine Werbespots und seine Filme über seine Leidenschaft für den Motorsport. 2014 debütierte der Vater von drei Kindern, der zweimal verheiratet war, auch als Romanautor.

Mit seinen Filmen stieß er die Tür auf in eine Welt, in der der Körper zum Fremdkörper wird - und gleichzeitig auf unheimliche Weise vertraut. »Ein Großteil der Kunst und vor allem natürlich die Religionen sind Versuche, der Realität des Körpers zu entfliehen«, sagte Cronenberg einmal im Interview mit »epd film«. »In meinen Augen sind wir unsere Körper, die machen unsere Existenz aus.« Darum müsse man sich als Filmemacher zwangsläufig mit ihnen beschäftigen.

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024