Essay

»Das ›Wir‹ meines Sohnes«

»Ich bin angewidert und wütend«: Thomas Meyer Foto: picture alliance / SvenSimon

So sehr kann man also Juden hassen. Das wusste ich eigentlich. Aber aus Geschichtsbüchern, nicht aus den Nachrichten. Diese Dimension ist nicht nur entsetzlich, sie ist auch erstaunlich. Andere – und das entsetzt und erstaunt mich gleich noch einmal – sind da gefasster.

Die wundert es nicht, dass Tausende Hamas-Kämpfer losgezogen sind, um zu morden, Frauen zu vergewaltigen, Babys zu köpfen und alte Menschen zu verschleppen. Für die ist das ganz normaler, legitimer Widerstand. Einige freuen sich sogar. Die finden es richtig toll, was da passiert ist.

In Berlin wurden Süßigkeiten verteilt. In Australien skandierte eine Gruppe begeistert: »Gas the Jews! Gas the Jews!« Wir erleben also Antisemitismus, auf den mit Antisemitismus reagiert wird. Das muss man auch erst einmal in den Kopf hineinkriegen. Ein paar Schritte weit kann ich den Gedankengang nachvollziehen: Den Palästinenserinnen und Palästinensern widerfährt Unrecht.

»Selbst schuld, die Juden!«, heißt es immer wieder

Im Gaza­streifen leben sie unter großen Entbehrungen, im Westjordanland werden sie teils enteignet. Das ist ein Fakt, mit dem wir Jüdinnen und Juden uns nicht gern beschäftigen. Wir reagieren sehr empfindlich darauf, wenn ihn jemand anspricht, und tun dann so, als wären die Palästinenser zu 100 Prozent selbst schuld an ihrem Schicksal. Was exakt der Reaktion linker Kreise auf den Angriff der Hamas entspricht. Selbst schuld, die Juden!

Das Massaker lässt sich durch nichts rechtfertigen.

Ich sage mal so: Die Hamas wäre vermutlich die genau gleiche Bande von durchgeknallten Mördern, wenn Israel sich längst auf die Grenzen von 1967 zurückgezogen und Gaza nie bombardiert hätte, genösse aber wohl nicht ganz so viel Zuspruch. Das Massaker, das die Terroristen nun angerichtet haben, lässt sich jedoch durch nichts rechtfertigen. Das ist kein Widerstand. Das ist kein Freiheitskampf. Es ist nichts Heldenhaftes daran und nichts Richtiges.

Es ist niederträchtiger, hasserfüllter Massenmord, und wer es fertigbringt, dafür Argumente zu finden, macht sich in letzter Konsequenz mitschuldig. Ich bin nicht nur angewidert und wütend, was die Hamas betrifft. Ich bin auch angewidert und wütend, dass ich, nach Jahrzehnten der Mäßigung, für die ich von vielen Juden kritisiert wurde, nun ebenfalls der Meinung bin, dass man diese widerliche Bande bis auf den letzten Mann einsammeln und erschießen muss. So stark wirkt deren Gift – bis in meine Seele hinein. Das ist furchtbar.

Angewidert und wütend machen mich auch meine Mitmenschen. Zum Glück nicht meine nächsten, die reagieren alle gut und klug, aber ich hätte mir vom Rest der Welt, namentlich der linken, mehr Solidarität gewünscht. Bei »Je suis Charlie«, »I can’t breathe«, »Frau, Leben, Freiheit« und der Ukraine hat es auch funktioniert. Sind die Opfer aber jüdisch, heißt es: Man muss beide Seiten verstehen. Das erschüttert mich und ist krass entlarvend. Ich habe aber noch ein anderes Gefühl.

Das Gift der Hamas wirkt bis in meine Seele hinein. Das ist furchtbar.

Es hat mich sehr überrascht. Und besänftigt. Es entstand durch ein einziges Wort: »Wir«. Mein elfjähriger Sohn ist im herkömmlichen Sinne nicht jüdisch, seine Mutter ist es nicht. Und ich bin nicht religiös. Für ihn ist das Judentum also eher fern. Es sitzt durch mich mit ihm am Tisch, und sein Vorname ist jüdisch, aber damit hat es sich.

Wie viel sollte ich meinem Sohn von dem Hams-Massaker erzählen?

Einige Male habe ich ihn gefragt, wie er dazu stehe, und er meinte, er habe kein Empfinden. Ich war unsicher, wie viel ich ihm vom Hamas-Massaker erzählen sollte. Er bekam mit, dass etwas Schreckliches passiert ist und ich ständig Nachrichten lese. Ich kaufte ausnahmsweise eine Zeitung, sonst lese ich nur online, und saß damit in der Küche.

Mein Sohn kam hinzu, las kurz mit und stellte viele Fragen. Er war empört, schimpfte gegen die Hamas, nannte sie völlig zu Recht »verdammte Arschlöcher« und fragte dann: »Was haben wir ihnen getan?«

Ich fragte ihn, warum er »wir« sage, ob er sich denn betroffen fühle. Ob er sich jüdisch fühle. Er meinte: »Ja, klar, logisch, was meinst du, warum ich mich immer so aufrege, wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht?« Das jüdische Wir ist für ihn logisch geworden. Das freut mich sehr. Die Umstände sind nicht schön. Aber das Wir meines Sohnes ist es.

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025

Israel

»The Sea« erhält wichtigsten israelischen Filmpreis

In Reaktion auf die Prämierung des Spielfilms über einen palästinensischen Jungen strich das Kulturministerium das Budget für künftige »Ophir«-Verleihungen

von Ayala Goldmann  17.09.2025

Berlin

»Stärker als die Angst ist das menschliche Herz«

Die Claims Conference präsentiert in einem Bildband 36 Männer und Frauen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Auszeichnung

Theodor-Wolff-Preis an Journalisten vergeben

Der Theodor-Wolff-Preis erinnert an den langjährigen Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff (1868-1943)

 17.09.2025

Los Angeles

Barbra Streisand über Dreh mit Robert Redford: »Pure Freude«

Mit dem Klassiker »The Way We Were« (»So wie wir waren«) brachen die beiden Stars in den 70er-Jahren Millionen Herzen. Nach dem Tod von Redford blickt Hollywood-Ikone Streisand zurück auf den Dreh

von Lukas Dubro  17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Für Toleranz, Demokratie: Margot Friedländer Preis vergeben

Es ist die erste Preisverleihung nach dem Tod der Stifterin. Ausgezeichnet wird der Einsatz für die Ideale der im Frühjahr gestorbenen Holocaust-Überlebenden

 17.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025