Chanukka-Geschichte

Das vertauschte Geschenk

Foto: Getty Images

Bestimmt bin ich die einzige Jüdin in der neuen Klasse. Beim Wichteln bekomme ich einen Radiergummi in Form eines Weihnachtsmannes mit roter Zipfelmütze und weißem Rauschebart.

Radiergummi Na toll. Ich schieb’ das Ding rüber zu Daniel, der mit mir die Bank teilt. »Kannste haben.« Daniel guckt mich komisch an, so, als ob er höchstpersönlich den Radiergummi in das blaue Stanniolpapier eingewickelt hätte. Hat er ja vielleicht auch.

Mist. Wichteln ist echt so was von bekloppt. Ich selbst bin stundenlang durch eine Einkaufspassage hier in Ulm gelatscht, die viel kleiner ist als die kleinste in Berlin. Was soll man kaufen für drei Euro, wenn du noch nicht mal weißt, ob ein Junge oder ein Mädchen dein Geschenk bekommt?

Sowieso kenne ich niemanden und weiß überhaupt nicht, was die hier so mögen. Also habe ich ein kleines Büchlein zum Reinschreiben gekauft. Zwei Kids haben schon ein ähnliches Büchlein ausgepackt, nur mit »Merry Christmas« in Goldschrift auf dem Umschlag.

Laune Zu Hause wird meine Laune auch nicht besser. Wieder keine Post von Sonja, dabei hat sie ihr Päckchen doch längst losgeschickt. Hat sie jedenfalls erzählt. Letztes Jahr haben wir jeden Abend gemeinsam gefeiert – entweder bei ihr oder bei uns. Obwohl Chanukka in der Schulzeit lag, durften wir lange aufbleiben, und am Wochenende haben wir wechselseitig beieinander übernachtet, Sufganiot gegessen und Serien geguckt.

Beim Wichteln kriege ich einen Weihnachtsmann-Radiergummi.

Heute zünde ich drei Kerzen an, während meine Eltern versuchen, Heiterkeit zu verströmen. »Wie wär’s mit einem Lächeln, Malka?«, fragt meine Mutter, und Papa erzählt: »Die Makkabäer wussten auch nicht, dass das Öl im Tempel für acht Tage reichen wird. Sie wussten nicht, dass sie gerade ein großes Wunder erleben, mussten jeden Tag aufs Neue bangen.« Die Stimme meines Vaters klingt hohl und fremd im noch kahlen Wohnzimmer. Außerdem mag ich seine Belehrungen nicht.

Auf mich wartet sowieso kein Wunder, nur meine nervige kleine Schwester, die es auch heute Abend nicht packen wird, den Dreidel so zu drehen, dass er nicht gleich umfällt. Bei ihr fällt er immer sofort auf’s Nun, und dann weint sie, weil sie keine Süßigkeiten bekommt und keine Nüsse, dabei soll sie froh sein, dass der Dreidel nicht auf dem Schin liegen bleibt.

Am sechsten Tag kommt endlich das Päckchen von Sonja. Die Adresse ist überklebt und korrigiert, und ich könnte mich selbst in den Hintern beißen. Ich habe Sonja tatsächlich die falsche Hausnummer gegeben! Ich erinnere mich genau, wie ich eine 43 aufschrieb, nicht eine 47, und so musste das Päckchen tagelang herumirren.

Brief Ich reiße es auf und finde eine Tonne Süßigkeiten, einen Brief und einen Dreidel, auf den Sonja die hebräischen Buchstaben selbst gemalt hat. Vor allem aber ist da ein gerahmtes Bild von uns beiden, eines der Selfies, die wir zum Abschied am Landwehrkanal in Berlin gemacht haben. »Ich vermisse dich!«, hat Sonja schräg darüber geschrieben. Ich verschwinde mit dem Brief und dem Foto in mein Zimmer, um den besten Platz für das Bild zu suchen und den Brief in Ruhe zu lesen.

Plötzlich kreischt Miri im Wohnzimmer. Bestimmt futtert sie gerade meine Süßigkeiten, und die Eltern versuchen, sie davon abzuhalten. Aber Miri hockt auf dem Boden und bringt meinen Kreisel in Schwung, der sogar ein paar Runden dreht, bevor er auf dem Gimmel liegen bleibt. »Mama, Papa«, ruft Miri. »Kuckt mal, es klappt!« Sie patscht in ihre schokoverschmierten Hände und dreht den Dreidel erneut. Voll konzentriert hält sie den Mund halb offen und streckt die Zunge raus. »Ey, das ist meiner, du machst ihn ganz dreckig!«

Ich stoppe den Dreidel mitten im Schwung. Miri weint noch nicht mal, sondern hüpft im Wohnzimmer herum: »Ich kann es, ich kann es!« Sie freut sich so sehr, dass sie sogar mich zum Lachen bringt, obwohl auch die Schokolade an ihren Händen ganz bestimmt von meiner war. In der Nacht träume ich von Sonja und von den Krähen am Landwehrkanal, mit denen wir um die Wette fliegen. Wir lassen uns vom Wind tragen bis nach Ulm, dieser langweiligen Kleinstadt mit dem riesigen Münster.

Donau »Wow, ist der Fluss schön!«, meint Sonja. Sie drückt meine Hand ganz fest und ergänzt leise, sodass ich sie im lauten Brausewind kaum verstehen kann: »Vergiss mich nicht, wenn du hier mit deinen neuen Freunden chillst.« Obwohl Sonja viel zu weit weg wohnt, fühle ich mich auf einmal nicht mehr so allein.

Ich werfe etwas von ihrem Schoko-Chanukka-Geld in meine Schultasche und schenke Daniel ein paar Münzen davon, weil mir die Geschichte mit dem Weihnachtsmann leidtut, und weil er doch eigentlich ganz nett ist und mir in Mathe alles erklärt.

 

Eines der coolsten Mädels der Klasse schaut erstaunt aufs Chanukka-Geld.

Aber Daniel starrt mich wieder nur verstört an, als ob er doch etwas Panne im Kopf wäre. Krass peinlich ist das alles. Da kommt gerade Anna vorbei, eines der coolsten Mädels der Klasse, das mich bisher kaum beachtet hat. Sie grinst uns beide vielsagend an, dann fällt ihr Blick auf das Chanukka-Geld.

»Feierst du etwa auch Chanukka?«, fragt sie erstaunt. »Ja«, antworte ich und werde rot vor Verlegenheit und Freude. »Und was machst du damit?«, fragt sie und schnippt gegen den Weihnachtsmann, der noch immer auf dem Pult zwischen Daniel und mir platziert ist und jetzt auf sein Gesicht kippt.

»Gewichtelt«, antworte ich mit trockenem Mund, und sie grinst: »Ich bekomme mein Geschenk noch. Bestimmt was ganz Originelles. Ein Büchlein mit Goldsternen oder so was.« Dann geht sie weiter mit lässigen Schritten.

Korb Es sind nur noch zwei Geschenke im Korb. Am nächsten Tag komme ich extra früh in die Schule und tausche meines von neulich heimlich aus. Ich habe Glück, heute darf Anna in den Korb greifen.

Ich halte den Atem an. »Bitte, nimm mein Geschenk!« Ihre zur Faust geschlossene Hand kommt aus dem Korb, und sie wippt zurück an ihren Platz. Anna legt das kleine, rot verpackte Geschenk vor sich hin. Es ist das von mir. »Mach es auf!«, hypnotisiere ich sie, aber sie denkt nicht daran.

Am nächsten Tag kommt sie zu mir. »Hast du den Dreidel bemalt?« »Nein«, antworte ich. »Meine beste Freundin aus Berlin.« »Danke!«, sagt Anna und wirkt auf einmal nicht mehr cool, sondern total ernst. Dann lächelt sie, und ich lächle zurück.

Bonn

Humanist und Konsumkritiker: Zum 125. Geburtstag von Erich Fromm

Schon vor Jahrzehnten warnte Erich Fromm vor einer Welt, in der Menschen ausschließlich funktionieren. Er analysierte Liebe, Freiheit und Verantwortung - mit tiefgründigem Blick, der zeitlos bleibt

von Paula Konersmann  21.03.2025

Justiz

Gil Ofarim: »Ich habe wirklich gedacht, ich werde freigesprochen«

Sänger Gil Ofarim hat vor Gericht zugegeben, einen antisemitischen Vorfall in einem Leipziger Hotel erfunden zu haben. Jetzt hat er zum ersten Mal ein ausführliches Interview gegeben

 21.03.2025

Berlin/Mainz

»Das war spitze!«

Hans Rosenthal hat in einem Versteck in Berlin den Holocaust überlebt. Später war er einer der wichtigsten Entertainer Westdeutschlands. Zum 100. Geburtstag zeigt ein ZDF-Spielfilm seine beiden Leben

von Christof Bock  21.03.2025

Fernsehen

»Mein Vater war sehr bodenständig«

Am 2. April wäre Hans Rosenthal 100 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum würdigt ihn das ZDF. Ein Gespräch mit seinem Sohn Gert über öffentliche und private Seiten des Quizmasters

von Katrin Richter  21.03.2025

Spielfilm

Ziemlich beste Mafiosi

In »The Alto Knights« kommen gleich mehrere Klassiker des Genres zusammen

von Patrick Heidmann  21.03.2025

Kolumne

Shkoyach!

Poesie statt Pillen – unsere Autorin hat ein Patentrezept gegen Ängste

von Maria Ossowski  20.03.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der Jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter, Nicole Dreyfus  20.03.2025

Leserbriefe

»Es gibt uns, nichtjüdische Deutsche, die trauern und mitfühlen«

Nach der Sonderausgabe zum Schicksal der Familie Bibas haben uns zahlreiche Zuschriften von Lesern erreicht. Eine Auswahl

 20.03.2025

Medien

Gil Ofarims Anwälte sollen ihn »zum Geständnis geprügelt haben«

Lange hatte der Musiker zum Verleumdungs-Prozess gegen ihn geschwiegen. Jetzt erwecken seine Anwälte den Eindruck, dass Ofarim nur aus einer Not heraus gestanden hat

 20.03.2025