Biografie

Das System Bibi

Polarisiert: der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Foto: Government Press Office

Es gibt nicht viele Politiker, die so stark polarisieren wie Benjamin Netanjahu. Fällt sein Name in Deutschland, so ist die Stoßrichtung der politischen Kommentatoren eindeutig: »Hardliner«, »rechts« oder gar »antidemokratisch« sind vermutlich die am meisten benutzten Vokabeln im Zusammenhang mit Israels langjährigem Regierungschef.

Exemplarisch dafür steht ein Artikel der »Süddeutschen Zeitung«, der den amtierenden israelischen Ministerpräsidenten »Wladimir Tayyip Netanjahu« nannte und damit auf eine Stufe mit äußerst unangenehmen Despoten stellte.»Bibi – König Israel«, rufen dagegen seine vielen Bewunderer. Für sie ist er einfach nur »Mister Security«, ein Garant dafür, dass der jüdische Staat in Zeiten von Terror und atomarer

IRAN Bedrohung durch den Iran auch in Zukunft Bestand haben wird. Und falls ihn die Korruptionsvorwürfe, die gerade wie ein Damoklesschwert über ihm schweben, nicht vorzeitig zu Fall bringen und er aus den vorgezogenen Neuwahlen am 9. April als Sieger hervorgeht, dann wäre Netanjahu nach dem 19. Juli im kommenden Jahr der Regierungschef, der so lange wie kein anderer vor ihm die Geschicke Israels seit der Gründung 1948 bestimmt hat.

»König Israel« nennen ihn seine Bewunderer, »Wladimir Tayyip Netanjahu« seine Kritiker.

Für den Journalisten Anshel Pfeffer ist all dies ein Glücksfall. Seine profunde Netanjahu-Biografie erscheint zu einem Zeitpunkt, da der Premier vor einem Wendepunkt seiner Karriere steht – wieder einmal, möchte man meinen. Denn nicht zum ersten Mal in seinem Leben wird »Bibi«, wie er seit seiner Kindheit genannt wird, gerade mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, von denen nicht wenige hausgemacht sind.

Und wer verstehen will, was Netanjahu antreibt, wenn es wieder einmal eng für ihn wird, und warum er sich dann stets als gewiefter Taktiker und politisches Stehaufmännchen behaupten konnte, kommt an diesem Buch einfach nicht vorbei.

WENDEPUNKT »Das Israel Netanjahus erfreut sich eines Lebensstandards ganz nach US-Vorbild«, schreibt Pfeffer bereits im Vorwort. »Es ist eine hybride Gesellschaft, die von uralten Ängsten und hohen Erwartungen an die moderne Hightech-Welt gleichermaßen geprägt ist, einer Kombination von Stammesdenken und Globalismus – genau wie Netanjahu selbst.«

Der familiäre Hintergrund ist zweifellos einer der Schlüssel zum Verständnis von Netanjahu. Aber anders als die meisten Autoren, die sich mit dem Leben des Ministerpräsidenten beschäftigt haben, war es laut Pfeffer eben nicht der Tod des bei der legendären Geiselbefreiung in Entebbe 1976 ums Leben gekommenen Bruder Yoni, der für Netanjahu zum Wendepunkt werden sollte und ihn in einen politischen Hardliner der besonderen Art verwandelte.

Der familiäre Hintergrund ist einer der Schlüssel zum Verständnis von Netanjahu.

Prägend war vielmehr, dass Vater Benzion in der revisionistischen Bewegung wohl doch nicht die prägende Kraft war, wie von seinem Sohn stets behauptet. Netanjahu senior stand zudem auf Kriegsfuß mit dem linken, aber auch mit dem nationalistisch gesinnten akademischen Establishment in Israel, weshalb er frustriert in die Vereinigten Staaten ging, um dort eine eher unspektakuläre Karriere als Historiker zu absolvieren. Für Zionisten jeglicher Couleur kam es damals einem Stigma gleich, das Land zu verlassen.

USA Genau das sollte für den jungen Netanjahu zuerst zu einer persönlichen Belastung werden, dann aber zu einem Vorteil – schließlich vermochte er es, seine amerikanische Sozialisation in handfeste politische Währung umzumünzen und dabei beispielsweise auf seine Erfahrungen als Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group zurückzugreifen.

Washington Die ersten Stationen seiner politischen Karriere absolvierte er denn auch nicht in Israel, sondern in den USA, wo er sich dank der engen Beziehungen zu dem Anfang der Woche verstorbenen Mosche Arens, damals Jerusalems Mann in Washington, abseits der traditionellen Hierarchien und Institutionen quasi als Quereinsteiger auf äußerst unkonventionelle Weise einen Namen machte. Bald war er das Gesicht Israels in allen wichtigen US-Nachrichtenkanälen.

Auch entwickelte Netanjahu damals sein Talent zum Networking mit den Reichen und Mächtigen dieser Welt – so traf er bereits in jenen Tagen mit Donald Trump zusammen, woraus sich ein Kontakt entwickelte, der laut Pfeffer nie ganz abbrechen sollte. »Bereits mit 28 Jahren sprach er mit einer Autorität, die man eigentlich eher bei deutlich älteren Personen erwarten würde.«

Sein Talent zum Networking mit den Reichen und Mächtigen dieser Welt entwickelte Netanjahu in den USA.

BRUCH Netanjahus Einstieg in das politische Tagesgeschäft in Israel und die Art und Weise, wie er sich daraufhin eine Machtbasis innerhalb der Likud-Partei aufbaute, stellt Pfeffer in vielerlei Hinsicht als eine Art Abrechnung mit den alten Eliten dar. Zum einen vollzog sein »Bibi« den Bruch mit den Veteranen der revisio­nistischen Bewegung innerhalb des Zionismus, weil diese nach der Abwahl der Arbeitspartei nach fast 30 Jahren Dauerherrschaft und dem Sieg Menachem Begins im Jahr 1977 keinen wirklichen Systemwandel nach Netanjahus Geschmack herbeigeführt hatten. Das geschah übrigens nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch. »Er unterschied sich in seinem Auftreten einfach grundlegend von der typisch informellen und eher lässigen Art aller israelischen Politiker.«

Seine Wählerschaft quittierte sein Auftreten im edlen Zwirn überraschenderweise nicht mit Hohn, sondern mit Bewunderung. Zum anderen konnte sich Netanjahu im Likud gegen die Söhne der Veteranen in der revisionistischen Bewegung, den sogenannten »Prinzen«, durchsetzen.

Gerade vor dem Hintergrund des beginnenden Wahlkampfs ist die Lektüre ein großer Gewin.

KRITIK Als Journalist der linksliberalen Tageszeitung »Haaretz« sowie des britischen »Economist« ist Pfeffer erwartungsgemäß alles andere als ein Fan des Ministerpräsidenten. Doch trotz aller Kritik an Netanjahu, die er in seinem Buch mehrfach recht explizit formuliert, schwingt immer wieder eine Spur Bewunderung mit – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich sein Protagonist über so viele Jahre in dem Haifischbecken, das die israelische Politik nun einmal sein kann, behaupten konnte. Fair und ausgewogen ist Bibi – The Turbulent Life and Times of Benjamin Netanyahu ebenfalls, was bei Pfeffers politischem Hintergrund keine Selbstverständlichkeit ist.

Gerade vor dem Hintergrund des beginnenden Wahlkampfs ist die Lektüre für den Leser in jedem Fall ein Gewinn, weil der Autor ihn durch das komplizierte Geflecht generationsübergreifender persönlicher Beziehungen, Animositäten und Abhängigkeiten in Israel zu führen vermag, ohne dabei in Polemik zu verfallen.

Anshel Pfeffer: »Bibi – The Turbulent Life and Times of Benjamin Netanyahu«. C. Hurst & Co. Publishers, London 2018, 424 S., 23,99 €

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert