Geschichte

Das Stigma der Heimatlosigkeit

Vom schwierigen Umgang mit dem deutsch-jüdischen Erbe im 21. Jahrhundert

von Julius H. Schoeps  25.02.2013 18:44 Uhr

»Als etwas Integrales erkennen«: deutsch-jüdische Intellektuelle von Heine bis Adorno Foto: (M) Marco Limberg

Vom schwierigen Umgang mit dem deutsch-jüdischen Erbe im 21. Jahrhundert

von Julius H. Schoeps  25.02.2013 18:44 Uhr

Die deutschen Juden vor 1933 hatten eine vergleichsweise klare Vorstellung von den eigenen Wurzeln, der eigenen Tradition und dem eigenen Platz in der Mitte Europas. Ein deutscher Jude war man, wenn man sich zu seiner jüdischen Herkunft bekannte, sich zugleich aber in der deutschen Sprache und Literatur auskannte, deutsch »dachte« – und sich im Auftreten und in der äußeren Erscheinung von der Umgebungsgesellschaft nicht wesentlich unterschied.

Wie wir alle wissen, haben die Nazis den Traum von der »deutsch-jüdischen Symbiose« auf brutalste Weise zerstört. Zwar formierten sich kurz nach Kriegsende wieder einige kleine Gemeinden, in denen auch deutsche Juden vertreten waren. Das einst blühende deutsche Judentum aber – verbunden mit Namen wie Liebermann, Einstein und Buber – war vom deutschen Boden unwiderruflich verschwunden. Auch nach dem bemerkenswerten Wachstum der jüdischen Gemeinden in Deutschland während der 90er-Jahre – infolge russisch-jüdischer Zuwanderung – scheint es sehr unwahrscheinlich, dass noch einmal an das deutsch-jüdische Erbe angeknüpft wird.

Eine entscheidende Frage ist, ob das deutsch-jüdische Erbe noch von historischem Interesse für künftige Generationen bleibt. Dies wird wohl nur dann möglich sein, wenn sich das jüdische Erbe als integrierbar in das allgemeine deutsche Kulturerbe erweist. Wird es beispielsweise gelingen, dass im öffentlichen Bewusstsein Schriftsteller wie Börne, Komponisten wie Mendelssohn Bartholdy und Philosophen wie Horkheimer genauso als dem deutschen Kulturerbe zugehörig begriffen werden wie ihre nichtjüdischen Pendants? Nur dann, wenn dieses Erbe nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas Integrales erkannt wird, besteht die Chance, dass die deutsch-jüdische Kulturtradition wenigstens in Ansätzen weiterleben kann.

Kulturraum Bei nüchterner Betrachtung kommt man zu dem Schluss, dass die Pflege des deutsch-jüdischen Erbes auch künftig auf den deutschsprachigen Kulturraum angewiesen bleiben wird. Die Annahme, dies könnte auch anderswo stattfinden, ist illusionär. Das schien zunächst noch anders während der 30er-Jahre, als circa 240.000 Juden aus NS-Deutschland flohen und sich überall in der Welt niederließen – insbesondere in Palästina und den USA, wo sie an bestimmten Orten noch so etwas wie ein deutsch-jüdisches Milieu erhalten konnten.

In dieser Zeit war man noch davon überzeugt, das deutsch-jüdische Erbe habe außerhalb des deutschen Sprachraums eine realistische Zukunft. Die Gründer der Leo-Baeck-Institute in New York, London und Jerusalem waren der Meinung, die Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Geschichte könne niemals mehr in Deutschland, sondern nur noch im Ausland erfolgen.

In beeindruckender Weise haben jene 50.000 »Jeckes«, die nach Palästina einwandern konnten, ihr mitgebrachtes kulturelles Erbe in Salons, Konzertsälen, Zeitungen und Vortragsveranstaltungen liebevoll gepflegt. Sie taten es, und tun es heute noch, so gut sie können, dabei allerdings ahnend, dass die Kultur, in der sie aufgewachsen sind, eine sterbende Kultur ist.

Ähnlich entwickelten sich die Dinge in den Vereinigten Staaten, wobei der Anpassungsprozess sehr viel schneller verlief. Der amerikanische Pass, den man nach einiger Zeit erhielt, hatte zur Folge, dass man sich in erster Linie als amerikanischer Staatsbürger verstand, nicht als Exil-Deutscher. Trotzdem war das deutsch-jüdische Kulturerbe in den Vereinigten Staaten bald in ganz markanten Spuren sichtbar. Das gilt für die Filmindustrie, aber auch für Universitäten, wohin Flüchtlinge aus Deutschland ganze Wissenschaftsdisziplinen verpflanzten.

Die Renaissanceforschung zum Beispiel, einst in Deutschland beheimatet, hat in den 30er-Jahren in den USA eine Zuflucht gefunden und eine neue Blüte erlebt. Ein anderes markantes Beispiel sind die emigrierten jüdischen Sozialwissenschaftler – etwa jene von der Frankfurter Schule –, die an der Columbia University in New York ein Institut für Sozialforschung gründeten und die die renommierte New School in New York wesentlich mitprägten. Auch das Reformjudentum in den USA erhielt durch die große Emigrationswelle der 30er-Jahre ganz neue, prägende Impulse.

Heimatlos Dennoch müssen wir eher von »Restbeständen«, von kulturellen Inseln und regionalen Phänomenen sprechen. Ein authentisches, historisch gewachsenes deutsches Judentum wie bei den Mendelssohns, Oppenheims, Wolffsohns und Wertheimers, eine kohärente Tradition, die deutsche Kultur und aufgeklärtes, weltoffenes Judentum ideal miteinander verbindet, existiert in Deutschland so gut wie nicht mehr.

Das deutsche Judentum ist mit der Schoa so gut wie vollständig ausgelöscht worden – und das, was wir deutsch-jüdisches Erbe nennen, kämpft seither mit dem Stigma der Heimatlosigkeit. Man kann das bedauern, aber das ändert nichts am Sachverhalt, dass das deutsch-jüdische Erbe keinen wirklichen Ort mehr hat, an dem es festgemacht werden kann. Unbestreitbar hat es während der letzten Jahrzehnte ein paar respektable Versuche gegeben, das deutsch-jüdische Kulturerbe wenigstens in das allgemeine deutsche Kultur- und Geschichtsbewusstsein zurückzuholen und zu integrieren.

Ludwig Börne und Heinrich Heine, um es an zwei konkreten Beispielen deutlich zu machen, sind nicht mehr die »heimatlosen Gesellen«, wie sie von Judenfeinden aller Couleur in der Vergangenheit abfällig tituliert worden sind. Im Gegenteil: Die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft hat begonnen, sich ihre Werke neu zu erschließen oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren. Auch in der Wissenschaft, in den Medien und im Gedenkstättenbereich gibt es sichtbare Fortschritte, was die Wiederentdeckung und Pflege des deutsch-jüdischen Erbes angeht. Seit Ende der 80er-Jahre ist eine ganze Reihe von Forschungsinstituten entstanden – etwa in Duisburg, Hamburg, Frankfurt, Potsdam und Leipzig.

Überblick Als ein Manko erweist sich, dass bisher ein systematischer Überblick über das fehlt, was an historischem Material über deutsches Judentum im In- und Ausland existiert und sichergestellt ist. Ich denke nicht an den Aufbau weiterer Forschungseinrichtungen und Museen, derer gibt es genug, sondern vor allem an die Sicherung von einschlägigen Archivbeständen, Nachlässen und Konvoluten aller Art, die sich in Privatbesitz oder in öffentlichem Besitz irgendwo auf der Welt befinden, und von denen selbst die Forschung oft kaum etwas weiß.

Das Leo-Baeck-Institut hat sich in den letzten Jahrzehnten dieser Aufgabe in dankenswerter Weise angenommen. Als Problem erweist sich heute aber, dass die Generation der Flüchtlinge aus Deutschland, die das LBI einst gründeten, kaum noch präsent ist und die Nachgeborenen in den Vereinigten Staaten, England und Israel zunehmend Probleme damit haben, sich mit dem überkommenen deutsch-jüdischen Erbe auseinanderzusetzen und zu identifizieren.

Was also kann unter den gegebenen Umständen überhaupt noch getan werden? Das Mendelssohn-Zentrum arbeitet gegenwärtig im Auftrag der deutschen Regierung unter der Leitung von Elke V. Kotowski an der Schaffung eines Handbuches sowie am Aufbau einer Datenbank, die einen ersten umfassenden Überblick über Quellen und Studien zum deutsch-jüdischen Kulturerbe weltweit schaffen soll.

Modelle Um eine etwas plastischere Vorstellung davon zu geben, worum es geht, möchte ich ein paar praktische Beispiele aus dem Alltag des Historikers einflechten. Mitte der 90er-Jahre ging es darum, das Arnold-Schönberg-Archiv von Los Angeles nach Europa zu überführen. Die University of Southern California hatte für das Archiv offensichtlich keine Verwendung mehr. Damals konkurrierten Berlin und Wien um den Zuschlag. Wien machte das Rennen.

Als Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien war ich seinerzeit in die komplizierten Verhandlungen eingebunden. Zum einem musste die Schönberg-Familie überzeugt und deren Einverständnis eingeholt, zum anderen ein tragfähiges Übernahmekonzept entwickelt werden. Die Entscheidung fiel schließlich für Wien, nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt sich bereit zeigte, repräsentative Räume und einen Arnold-Schönberg-Lehrstuhl zur Verfügung zu stellen.

Das im Fall Schönberg zum Tragen gekommene Akquisitionsmodell ließe sich bestimmt auch auf andere Fälle übertragen. Ich denke etwa an den Nachlass des Regisseurs Max Reinhardt, der an der University Binghamton im Staat New York aufbewahrt wird. Er sollte, so meine ich, dorthin zurückkommen, wo er eigentlich hingehört – also ebenfalls nach Berlin oder Wien.

Natürlich verlangen derartige Vorhaben ein Höchstmaß an Sensibilität. Nach wie vor existieren komplizierte Befindlichkeiten. Aber man könnte es zumindest versuchen. Dazu würde es gehören, entsprechende Gespräche zu führen und in Verhandlungen einzutreten. Es gibt flexible Möglichkeiten, die man in Erwägung ziehen kann. Ich denke dabei an Kauf, Tausch oder den eventuellen Abschluss eines Leihvertrages.

Datenbank Auch die in aller Welt verstreuten und aufbewahrten Judaica-Objekte, die einen eindeutigen Bezug zu Deutschland haben, sollten in künftige Betrachtungen mit einbezogen werden. Die Sammlungen in den Museen von Jerusalem, New York, Los Angeles, San Francisco und selbst in dem vergleichsweise kleinen Kunstmuseum in Raleigh (North Carolina) bewahren Handschriften, Torakronen, Rimonim- und Besamim-Büchsen auf, von denen man gerne wüsste, auf welchen Wegen sie dorthin gelangt sind. Wenn man diese Handschriften, Kultgegenstände und Objekte aus dem Alltag jüdischer Familien schon nicht mehr in den deutschen Sprachraum zurückführen kann – was wohl auch niemand ernsthaft erwartet –, so wäre doch der minimale Anspruch, sie zu katalogisieren und die Ergebnisse in einer Datenbank festzuhalten.

Dokumentiert werden sollten auch die Bibliotheken, die Juden aus Deutschland mit ins Exil nach Palästina, nach Südamerika oder in die Vereinigten Staaten genommen haben. Ein erster Versuch, den Verbleib einiger dieser Bibliotheken zu dokumentieren, ist von Mitarbeitern des Mendelssohn-Zentrums unternommen worden.

Mir ist es ein persönliches Anliegen, dass auch Gemälde und Kunstobjekte, die sich einst im Besitz jüdischer Privatsammler befanden, systematisch erfasst und entsprechend dokumentiert werden. Es kann nicht angehen, dass an den Wänden etablierter Museen Bilder hängen und in Depots dieser Häuser Kunstgegenstände lagern, bei denen unklar geblieben ist, wie sie in deren Besitz geraten sind. Der Provenienznachweis, nicht überall als selbstverständlich angesehen, sollte meines Erachtens für die Museen verpflichtend gemacht werden.

Sperrmüll Mit einer recht kuriosen und doch prägnanten Episode möchte ich schließen. Sie verdeutlicht nochmals, dass wir uns beeilen müssen, die Reste des deutsch-jüdischen Erbes im In- und Ausland zu sichern. Anfang der 90er-Jahre, als wir in Berlin die Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« im Gropius-Bau vorbereiteten, erfuhren wir von einem deutsch-jüdischen Ehepaar, dem es gelungen war, sein Hab und Gut vollständig in die Emigration zu retten.

Das Ehepaar hatte seine komplette Wohnungseinrichtung – Teppiche, Möbel, Bilder – bei der Flucht in die Vereinigten Staaten mitnehmen können. In San Francisco, wohin es das Ehepaar verschlug, bezog es eine Wohnung und richtete sie mit den mitgebrachten Möbeln 1:1 so ein, wie sie einst in Deutschland gestanden hatten. Es war das greifbare Bemühen, an einem Stück verlorener Heimat unverändert festzuhalten.

Unser Team war geradezu elektrisiert, reiste nach San Francisco und begab sich zur angegebenen Adresse. Das Ehepaar trafen wir bedauerlicherweise jedoch nicht mehr an. Es war, wie wir erfuhren, kurz zuvor verstorben. Der nächste Schock war die Nachricht, dass die Wohnung einige Wochen vor unserem Besuch geräumt und die Wohnungseinrichtung auf dem Sperrmüll gelandet war. Unsere Jagd nach einem Stück überlieferter deutsch-jüdischer Wohnungskultur, das sich über Jahrzehnte im Ausland erhalten hatte, war damit beendet.

Der Fall der Wohnungseinrichtung in San Francisco, die auf dem Sperrmüll landete, wiederholt sich jeden Tag. Es ist an uns, dafür zu sorgen, den Prozess des Verschwindens und Vergessens aufzuhalten. Wenn wir nicht handeln, wer soll es sonst tun? Und wenn nicht jetzt, wann dann?

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