Netflix

Das Phänomen »Shtisel«

Shtisel ist zurück. Die weltweit erfolgreiche israelische Serie über ei­ne charedische Familie in Jerusalems Stadtteil Ge’ula, die unzählige Juden und Nichtjuden in ihren Bann gezogen hat, wird mit ihrer dritten Staffel im kommenden Jahr in Deutschland bei Netflix zu sehen sein. Die erste Folge der neuen »Shtisel«-Saison, wie immer von den israelischen Yes-Studios produziert, wurde am 17. Dezember in einem Online-Event aus dem Streicker Center im New Yorker Tempel Emanu-El und den Wohnungen der Schauspieler und des Autors ausgestrahlt.

Rückblende, New York, 11. Juni 2019: Die prächtige Synagoge Emanu-El, seit 1845 das Flaggschiff des Reformjudentums in Manhattan, platzt aus allen Nähten. 2500 Menschen sitzen dicht an dicht, um einer Talkrunde der Shtisel-Protagonisten zu lauschen. Neta Riskin (Giti Weiss), Dov Glickman (Shulem Shtisel) und Michael Aloni (Akiva Shtisel) stellten sich den Fragen der Moderatorin.

John Lennon, der bis zu seiner Ermordung am 8. Dezember 1980 nur rund 15 Gehminuten entfernt vom Streicker Center entfernt wohnte – einmal quer durch den Central Park bis zum heutigen Lennon Memorial, den Strawberry Fields –, hatte einst in einem legendären Zitat die Sorte Publikum präzise beschrieben, die sich da wie die Teenies drängte, um ihre Shtisel-Stars zu erleben.

»Für unser letztes Lied bitte ich um Ihre Mithilfe«, sagte Lennon 1963 in Anwesenheit der königlichen Familie in London. »Die auf den billigen Plätzen bitte ich um Applaus, der Rest von Ihnen kann einfach mit seinem Schmuck klappern.« Der Tempel jedenfalls war prall gefüllt mit New Yorks liberaler jüdischer Elite – es war wahrscheinlich der Abend mit der höchsten Millionärsdichte seit Langem.

jiddisch Michael Aloni filmte mit seinem iPhone das Publikum, und der so alerte Hauptdarsteller, der perfektes US-Englisch spricht, rang sichtlich um Worte. »So eine fantastische Synagoge habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.« Die gestandenen Business-Menschen und Philanthropen hingen ihm wie pubertierende Fans an den Lippen.

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Am folgenden Tag wiederholte sich das Shtisel-Weihespiel noch einmal. Wieder hatten 2500 in die Jahre gekommene Fan-Girls und -Boys vor dem Tempel Schlange gestanden wie sonst nur an Chanukka, um einer Serie zu huldigen, die 2013 mit der ersten Staffel an den Start ging und drei Jahre später mit einer zweiten Staffel schon an ihr Ende gekommen schien.

In Kurzform ist damit das Shtisel-Phänomen umrissen: die Magie einer Serie, deren Darsteller, säkulare Israelis, eine Welt verkörpern, die ihnen genauso fremd war wie New Yorks Reformjuden.

Hinzu kommt noch der Kniff, mit den langen Passagen auf Jiddisch ein eigentümlich sentimentales Band zu knüpfen. Die Dialoge stellen eine telegene Jiddischkeit her, die auch und gerade Zuschauer im deutschen Sprachraum erfasst. Sie hören womöglich erstmals diese Sprache, die ihrer eigenen so nah und doch so fern ist.

Ob säkular, religiös, deutsch oder finnisch: Die Serie funktioniert in vielen Milieus.

Szenenwechsel. Wieder das Streicker Center, das Kulturzentrum der Emanu-El-Gemeinde nahe der 5th Avenue, Sonntagabend vergangener Woche. Es sind Corona-Zeiten, einsam sitzt Gady Levy, Streickers Executive Director, zur Begrüßung vor seiner Kamera. Mittlerweile hat sich das Verhältnis der Streicker-Familie zu Shtisel von inniger Bewunderung zu tätiger Unterstützung gewandelt – gleich zwei Mitglieder der Familie, Barbara K. Streicker und Eleanor Streicker, firmieren in Staffel drei als Co-Produzenten der Serie. Dass es überhaupt, acht Jahre nach der ersten Staffel, zur Ausstrahlung einer dritten Saison kommt, ist gewiss auch den Streickers zu verdanken.

Jetzt sitzen also die Moderatorin vom Pay-Radio SiriusXM in New York und Neta Riskin, Dov Glickman, Michael Aloni, Shira Haas (Ruchami Weiss) und Autor Ori Elon in Israel vor ihren Computer-Kameras – und mit ihnen die virtuelle Shtisel-Gemeinde, die 36 Dollar für den ersten Blick auf die neue Staffel gezahlt hat. Zum Inhalt dürfen die Schauspieler naturgemäß nichts sagen – zur Magie dieser Mischung aus EastEnders und Fiddler On The Roof hingegen schon.

Dov Glickman, in Israel ein wirklicher Schauspielstar, sagte, »es gab keine Figur in meiner Karriere, die ich so unbedingt spielen wollte. Als ich das Drehbuch las, war ich überwältigt. Ich hatte so ein Skript noch nie gelesen.« Und Michael Aloni, der Sonnyboy, der den vergrübelten Akiva spielt, erzählt, dass man ihn zwar für die Rolle gewollt habe, aber nicht sicher gewesen sei, ob der Frauenschwarm wirklich einen Charedi darstellen könne. »Aber dann haben sie festgestellt, dass das doch klappen könnte, wenn ich mir einen Bart wachsen ließe.«

akribie Es brauchte wesentlich mehr, um all die menschlichen Alltagsdramen um Loyalität, Liebe, Glaube, Zweifel, Eifersucht, sozialen Druck und Generationenkonflikte glaubhaft im Ambiente von Ge’ula anzusiedeln.

Mit größer Akribie wurde dafür gesorgt, dass der Blick in die verschlossene Welt der Ultraorthodoxie nicht zu einer Vorführung anderer Lebensweisen wurde. Von Bewegungstraining – »lerne, so zu laufen, als müsstest du in Rekordzeit von A nach B und dabei unsichtbar sein« (Neta Riskin) – über Jiddisch pauken und Präzision bis in die kleinste Requisite gelang das auf ebenso verblüffende wie würdige Weise.

Ob es diese dritte Staffel geben würde, das war lange unklar, nicht nur wegen Corona, das die Dreharbeiten dominierte und verzögerte, sondern wegen vertraglicher Details und der Schnelllebigkeit der israelischen Fernsehbranche.

Shira Haas jedenfalls, auch international ein Shootingstar, erfuhr während der Dreharbeiten zu Maria Schraders Unorthodox in Berlin davon, dass es weitergehe mit einer dritten Staffel. Die Schauspielerin hatte es schon aufgegeben, ihrer »Familie« noch einmal am Shtisel-Set zu begegnen.

Die Religion verstärkt die allzu menschlichen Dramen der Familie noch einmal.

In Israel war Shtisel schon nach der Erstausstrahlung 2013 weltberühmt. Aber es sollte noch bis 2018 dauern, ehe die Serie durch den Kooperationsvertrag mit Netflix zu einem Welterfolg wurde – einem gänzlich unerwarteten. Denn zunächst klingt der Alltag einer charedischen Familie nicht wie ein Straßenfeger. Doch der Zauber von Shtisel besteht aus der Universalität, die die Serie ausstrahlt.

Je länger man dem Ringen der unterschiedlichen Akteure zuschaut, desto klarer wird; es geht hier nicht um ultraorthodoxe Besonderheiten, sondern um menschlich allzu Menschliches: den Kampf des versponnen-feingeistigen Akiva um mehr Anerkennung von seinem gestrengen Vater, um Ruchamis Versuch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, um Gitis verzweifelte Bemühungen, ihre Familie zusammenzuhalten – kurz, um Kabale und Liebe.

menschlich Dov Glickman bringt es beinahe so weise wie sein alter Ego Shulem Shtisel auf den Punkt. »Bei Shtisel geht es nicht um religiöse Leute. Es geht um Beziehungen zwischen Menschen, die Wünsche und Sehnsüchte haben, um Liebe und Eifersucht. Allerdings sorgt die Religion für mehr Tiefe bei all diesen Dramen und verstärkt die Konflikte, weil sich die Akteure täglich vor Gott zu verantworten haben.«

Nun kommen also all diese alltäglichen Dramen wieder auf uns zu – Gott sei Dank, nachdem es zwischenzeitlich so aussah, als würden Staffel eins und zwei bei Netflix verschwinden und Staffel drei gar nicht in Deutschland gezeigt werden. Die Rechtedebatte ist nun aber geklärt – am 20. Dezember begann die Ausstrahlung auf Yes in Israel, und im Frühjahr 2021 soll es dann bei uns losgehen.

Was in der neuen Staffel passiert, wird hier nicht verraten, nur so viel: Schon Folge eins ist packend und schickt die Zuschauer auf eine Achterbahn der Gefühle.

Für Ori Elon scheint übrigens Staffel drei die höchste Hürde gewesen zu sein, die Shtisel auf dem Weg zum Dauerbrenner zu nehmen hatte. Die vielfältigen Engagements seines Star-Ensembles scheinen ihn nicht zu irritieren.

plot Scherzend-hintergründig sagte er am Premierenabend, die fünfte Staffel sei geschrieben und die sechste bereits in Planung. »Wir könnten ewig so weitermachen.« Sogleich bat Dov Glickman seine Hilfe beim künftigen Plot an: Eines Tages, so Glickman, wache Shulem auf und stelle fest, dass Akiva weg sei. Daraufhin mache er sich auf, seinen Sohn zu suchen – auf der ganzen Welt.

Noch mehr Soap-Opera-Zutaten scheinen also bereitzustehen für die kommenden Shtisel-Menüs. Der Blick auf ein für die meisten Zuschauer gänzlich exotisches Umfeld, das aber durch die meisterhaften Drehbücher und die überragenden Schauspieler sowie akribischstes Coaching niemals zu einem voyeuristischen Blick in eine Welt gerät, die uns ansonsten verschlossen ist, bleibt also weiter unverstellt.

So können wir darauf hoffen, dass Shti­sel uns auch weiterhin die Tür öffnet in eine verborgene Welt und allen, die sich darauf einlassen, die schlichte wie geniale Erkenntnis vermittelt: Nebbich, wir sind doch alle Menschen – und letztlich ticken wir alle gleich.

Alexander Estis

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