Ich-Erzählung

Das Gedächtnis des Schmerzes

Ein treffenderes Motto als jenes von Vilmos Csaplár hätte Gábor Németh für seinen in Ungarn hochgelobten und nun nach acht Jahren endlich ins Deutsche übersetzten Roman Bist du Jude? wohl kaum finden können. »Was hat wo seinen Platz? Nicht etwa dort, wo es die Erinnerung quasi herauskatapultiert?« Diese Frage löst Strudel aus, aufwirbelnde Erinnerungen und Ströme, Katarakte von Bildern, Momentaufnahmen, Bewegungen, Details, Handgriffen, atmosphärischen Irritationen.

Gábor Németh, 1956 in Budapest geboren, hat seit 1990 eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht, er schrieb Filmskripts und Theaterstücke, ist in seiner Heimat ein bekannter und gern gelesener Kolumnist, war lange als Rundfunkjournalist tätig wie als Chefredakteur des Literaturportals Litera, lehrt an der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst und lebt heute in einem Dorf nahe Ungarns Hauptstadt.

gulaschkommunismus Im Mittelpunkt seines Buches steht ein Mann, den wir in verschiedenen Lebensaltern in Ungarn zwischen Mitte der 50er-Jahre und der Jahrtausendwende erleben, zwischen Repression, Tauwetter, Gulaschkommunismus und dem altersschwachen Zerfall des Kommunismus. Wir hören durch den Mund der Hauptfigur auch schon von der Zeit vor seiner Geburt. Die Begleitumstände – fast wäre er zweimal im Leib der Mutter gestorben – stimmen ein auf die Melancholie, die die 180 intensiven Romanseiten durchzieht.

Der Ich-Erzähler ist Jude in einem Land, in dem dies ob sozialistischer Staatsräson vorgeblich keine Bedeutung mehr spielt. Doch als Schulkind sieht er in einem Sommerferienlager zusammen mit Mitschülern eine filmische Kurzdokumentation über Auschwitz. Seither sucht er angestrengt nach jüdischen Fermenten im Leben und in der Geschichte seiner Eltern und Großeltern, die allesamt ein unauffälliges angepasstes, kleinbürgerliches Leben im grauen Regime des Mangelsozialismus führen.

»Wirbelbuch« Immer wieder tauchen an unerwarteten Stellen innerhalb der schnellen, raffinierten Erzählbewegung dieses »Wirbelbuches«, so der noch in der Verlagsvorschau annoncierte Untertitel, der im gedruckten Roman nicht mehr zu lesen ist, isolierte Momente auf, erschreckende und Angst einflößende Ereignisse, in Hospitälern vor und nach Operationen etwa, sowie Beobachtungen, die das Außenstehende des Erzählers präzis wiedergeben.

Es ist ein Schmerz, der in der Gegenwart auftaucht und als überzeugtes, tief sitzendes Fremdsein weit zurückreicht in die eigene Kindheit. Wenn das Haus, in dem er die ersten Lebensjahre verbrachte, verschwunden ist, überwuchert von wild wachsendenn Apfelbäumen. Wenn Aufenthalte im Ausland spielerische Träume auslösen, jemand ganz anderer zu sein, ein Spanier, ein Italiener. Wenn sich in den Schleifen des Erinnerns minuziös der Unfalltod des Großvaters verheddert und das Abschiedslächeln der krebskranken Mutter im selben Krankenhaus wiederersteht, in dem 33 Jahre zuvor der Erzähler namens Gábor eine furchtbare Mandeloperation über sich hatte ergehen lassen müssen.

übersetzung Schmerz durchzieht dieses schmale Buch unablässig, doch nie larmoyant. Es ist der Schmerz, ausgeschlossen zu sein, irgendwie anders zu sein, wenn die anderen, stumpfgrausam tierquälerischen Kinder fragen: »Bist du Jude?«. Und doch kommt dieser Schmerz in leichthändiger Manier daher, durchschossen von Ironie und zunehmend direkt zitierten Anleihen aus der Weltliteratur. Ein ergreifender, raffinierter Kindheitsspiegel.

Terézia Mora, selbst preisgekrönte Autorin und Übersetzerin solch großartiger ungarischer Autoren wie Lajos Parti Nagy, István Örkény und Péter Esterházy, hat Némeths zarte und energische, kraftvolle und subtile Prosa in ein ebenbürtiges Deutsch übertragen, György Dalos hat ein informatives, fast zu knapp ausgefallenes Nachwort beigesteuert.

Gábor Németh: »Bist du Jude?« Übersetzt von Terézia Mora. Mit einem Vorwort von György Dalos. Edition Atelier, Wien 2012, 180 S., 18,90 €

Zahl der Woche

3.123.000 Menschen

Fun Facts und Wissenswertes

 28.10.2025

Imanuels Interpreten (14)

Neil Diamond: Der Romantiker

Das mit einer ansprechenden Stimme ausgestattete jüdische Talent wurde zum Publikumsliebling – genau wie seine ebenso prominente Klassenkameradin

von Imanuel Marcus  28.10.2025

Premiere

»Übergriffe gegen uns sind mittlerweile Alltag«

Anfeindungen, Behinderungen, Drohungen und Übergriffe: Ein neuer Film dokumentiert die Pressefeindlichkeit bei vielen Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin. Die Journalisten-Union warnt vor den Folgen für die Pressefreiheit hierzulande

von Markus Geiler  28.10.2025

Rotterdam

Unbehagen im Love Lab

Die jüdische Soziologin Eva Illouz ist an der Rotterdamer Erasmus-Universität nicht willkommen. Sie spricht von einer »antisemitischen Entscheidung«, die immerhin demokratisch zustande gekommen sei

von Michael Thaidigsmann  28.10.2025

Berlin

Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens: »Wenn ich eine Wolke wäre«

Elf Jahre nach Kriegsende entdeckte Deutschland seine verlorene Dichterin wieder. Volker Weidermann gelingt ein berührendes Porträt der Lyrikerin

von Sibylle Peine  28.10.2025

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

Fernsehen

Selbstermächtigung oder Männerfantasie?  

Eine neue Arte-Doku stellt den Skandalroman »Belle de jour« des jüdischen Schriftstellers Joseph Kessel auf den Prüfstand  

von Manfred Riepe  27.10.2025

Stuttgart

»Mitten dabei!«: Jüdische Kulturwochen beginnen

Konzerte, Diskussionen, Lesungen und Begegnungen stehen auf dem vielfältigen Programm

 27.10.2025

Biografie

Vom Suchen und Ankommen

Die Journalistin hat ein Buch über Traumata, Resilienz und jüdische Identität geschrieben. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Entdeckungsreise

von Sarah Cohen-Fantl  26.10.2025