Esther Dischereit

Das Bild, das nicht entsteht

Esther Dischereit wurde 1952 im hessischen Heppenheim geboren. Foto: Bettina Straub

Das Buch ist eine Herausforderung. Da sitzen der Sohn der Frau (»der Neffe«) und ihre Schwester (»die Tante«) stundenlang in der Flughafenlounge des Berliner Flughafens in der Hitze. Die Schokoladenkekse schmelzen in ihrer Hand, und die Segafredo-Pads beulen seine Jackentasche aus.

Natürlich geht es um viel mehr. Die Gedankenströme und die Gespräche kreisen, werden immer wilder, berühren, verstören, holen Verdrängtes an die Oberfläche. Familiengeschichte (»Immer wieder taucht jemand auf und soll zu uns gehören«) oszilliert mit transgenerationellen Traumata, Weltgeschichte mit Absurdität von Bürokratie.

Die Frage nach dem Woher-komme-ich ist nicht nur omnipräsent in Esther Dischereits neustem Roman Ein Haufen Dollarscheine (der für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Belletristik nominiert ist), sondern gräbt sich wie ein Betonpfeiler in jede jüdische Biografie ein, die dort geschildert wird. Jeder kleinste Versuch, diese Frage im Leben außen vor zu lassen, zeugt von kläglichem Scheitern. Weil es einfach nicht geht. Die Figuren ringen mit ihrer jüdischen Herkunft, ihren persönlichen Erfahrungen und den Erwartungen der Gesellschaft.

Der innere Konflikt der Figuren – und es gibt viele in diesem Roman – wird analog zur Komplexität der Identitätssuche mikroskopisch genau dargelegt. So wurden die Protagonisten von der Autorin, die 1952 in Deutschland geboren wurde und deren Kindheit und gesamtes Leben vom Überleben ihrer Mutter Hella Freundlich im Zweiten Weltkrieg geprägt war, über die ganze Welt verteilt.

Verschiedene Zeitebenen

Und auch auf verschiedene Zeitebenen: Berlin, Rom, Neapel, Chicago, Oxnard, Heppenheim (Dischereits Geburtsort), New York, Los Angeles, Frankfurt, Shanghai, Birkenbach und Theresienstadt gehören zu einer Welt, die sich immer wieder von Neuem durchdekliniert, weil Menschen nicht losgelöst von ihren Bezugspunkten verstanden werden können.

Es geht um ein verschwundenes jüdisches Grab auf einem christlichen Friedhof.

Das mehr als 300-seitige Buch erzählt von den Auswirkungen der Schoa auf die Generationen danach – und zwingt sie, darüber nachzudenken. Es handelt aber auch vom Kampf gegen Windmühlen, schildert kafkaeske Erfahrungen mit Behörden – und treibt der Leserin die Schamesröte ins Gesicht. Warum? Die Prägnanz und Klarheit von Esther Dischereits Erzählen gehen regelmäßig an die Nieren, ihre gnadenlos genauen Beobachtungen sind oft sehr komisch, Lachen und Entsetzen wechseln sich ab. Mit der Folge, dass Sätze wie »Braucht der Gott einen Stein, einen Platz, ein Zeichen der Einstigen?« eine tiefe Wirkung entfalten. Denn die Frau im Blümchenkleid ist Holocaust-Überlebende. Und sie wird getrieben von einer Mission.

Es geht um ein verschwundenes jüdisches Grab auf einem christlichen Friedhof und einen jüdischen Friedhof, der Beweise für die Herkunft der längst begrabenen Gebeine verlangt. Es geht aber auch um eine Wohnung in Berlin, ein Häuschen in den USA: verlorenes Erbe aus »Wiedergutmachungszahlungen«, das die christlichen angeheirateten Familien sich angeeignet haben.

Vielleicht ein Bezug auf Dischereits eigene Familie? Wir wissen es nicht. Dischereits Mutter versteckte sich während der Schoa an verschiedenen Adressen in Berlin und erhielt Unterstützung von vielen Menschen, insbesondere von einem Eisenbahner, der sich als ihr Ehemann ausgab.

Nach dem Krieg heiratete Freundlich einen nichtjüdischen deutschen Arzt, Paul-Jürgen Dischereit. Zusammen bekamen sie zwei Töchter. Dischereits Eltern ließen sich scheiden, als sie sieben Jahre alt war, die Kinder lebten bei ihrer Mutter. Diese sorgte dafür, dass sie in jüdischer Religion und jüdischen Bräuchen unterrichtet wurden. Die Mädchen besuchten die Hebräischschule in Darmstadt, und freitagabends kam ein Rabbiner ins Haus.

Die Autorin untergräbt bewusst jede Form von stringenter Erzählung.

Doch die jüdische Gemeinde veränderte sich. Neuankömmlinge aus Osteuropa wurden vorherrschend; die Kinder verstanden die Sprachen der Einwanderer nicht und fühlten sich entfremdet. Nach einigen Jahren endeten die Besuche in Darmstadt und damit auch jeglicher Kontakt zur jüdischen Gemeinde.

Die Folge: Jüdischsein wurde zum prägnanten Thema in Dischereits frühen Publikationen, so in ihren Prosawerken Joëmis Tisch (1988) und Merryn (1992).

Narratives Prinzip

Bereits letzteres ist voll fragmentarischer, wechselnder Perspektiven und Zeit­ebenen, »als spräche jemand mit offenem Mund und die Worte wollen nicht herauskommen«.

Dischereits Erzählstil ist auch im neuen Buch fragmentarisch – möglicherweise ein persönlicher wie literarischer Versuch, die Auswirkungen des Holocaust zu verarbeiten. Auffällig ist dabei das narrative Prinzip der Autorin: »Es will kein Bild entstehen.«

Dischereit untergräbt bewusst jede Form von stringenter Erzählung und verweigert geschlossene Narrative, um die Zerbrechlichkeit der Erinnerungen zu betonen. Mit Ironie als Vehikel, das Geschehene zu ertragen, entlarvt sie absurde Diskussionen über jüdische Abstammungsnachweise und liefert ein tragisches Bild von der zweiten und dritten Generation von Kindern von Holocaust-Überlebenden, die als Minderheit in Deutschland leben. Sprachgewandt, komisch, kaum zum Aushalten.

Esther Dischereit: »Ein Haufen Dollarscheine«, Maro, Augsburg 2025, 312 S., 24 €

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