Literatur

Damals in Odessa

Zionistischer Führer, Soldat, Sprachwissenschaftler und Schriftsteller: Vladimir Jabotinsky Foto: ullstein

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Damals in Odessa

Erstmals erscheint auf Deutsch Vladimir Jabotinskys Roman »Die Fünf«

von Christoph Gutknecht  10.12.2012 17:04 Uhr

In seinem Buch Pfeil ins Blaue (1953) beschrieb Arthur Koestler den »Mann, dessen entscheidender Beitrag zur Aufrichtung des jüdischen Staates bisher noch nicht genügend gewürdigt wird«. Gemeint war der 1880 in Odessa geborene Vladimir Zeev Jabotinsky, ein ebenso charismatischer wie umstrittener Führer des politischen Zionismus.

Theodor Herzl wurde durch die Dreyfus-Affäre klar, »dass es Zeit würde, etwas für die Juden zu tun«, Jabotinsky machten die Pogrome von 1903 bis 1906 in Kischinew, der heutigen moldawischen Hauptstadt, zum Kämpfer für jüdische Belange. Die assimilierten russischen Juden erschütterte er durch die Übersetzung des Gedichts »In Schchite Schtot« (deutsch: In der Stadt des Schlachtens), in dem Chaim N. Bialik, der größte Poet des modernen Hebräisch, die Verbrechen auf Jiddisch geschildert hatte.

Als eloquenter und polyglotter Redner trat Jabotinsky auf den Zionistenkongressen für einen jüdischen Staat auf dem Boden des biblischen Palästina beidseits des Jordans ein. Die Kultur des Landes sollte auf jüdischen Werten basieren, die Staatssprache Hebräisch sein. »In Eretz Israel stand unsere Wiege, dort wurden wir eine Nation«, lesen wir in seiner Autobiografie Sippur Yammai. Jabotinskys Ziel war die Integration der Diasporajuden in ein nationalistisches Gefüge mit hegemonialer Führungsstruktur, womit er sich gegen die gemäßigten Zionisten um Chaim Weizmann stellte. »Er entwickelte eine Theorie des integrierenden Nationalismus«, so Shlomo Avineri 1998, »die stark von parallelen Entwicklungen auf europäischen Schauplätzen beeinflusst wurde«.

Falke Jabotinskys sozialpolitisches Credo, auf Gerechtigkeit und Freiheit des Einzelnen gerichtet, waren die fünf hebräischen »Mems«: »mazon« (Nahrung), »ma’on« (Wohnung), »malbusch« (Kleidung), »marpeh« (medizinische Versorgung) und »moreh« (Lehrer). Sicherheitspolitisch war Jabotinsky ein Falke.

In seinem Essay Die eiserne Mauer (1923) schrieb er zur »zionistischen Kolonisation«, wie er sie nannte: »Sie kann nur unter dem Schutze einer von der einheimischen Bevölkerung unabhängigen Macht, einer eisernen Wand, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann, weitergeführt und entwickelt werden.« In dem Text Das eherne Gesetz spitzte er kurz danach diesen Gedanken weiter zu und formulierte: »Der Zionismus steht und fällt mit der Frage der bewaffneten Kräfte. Es ist wichtig, Hebräisch zu sprechen, aber bedauerlicherweise ist es noch wichtiger, schießen zu können.« Bestürzend aktuelle Sätze.

Im Februar 1940 ging Jabotinsky in die USA, um für seine Idee einer jüdischen Armee im Kampf gegen die Deutschen um Unterstützung zu werben. Wenige Monate später, im August des Jahres, starb er in der Nähe New Yorks, in einem Sommerlager der 1923 von ihm gegründeten Jugendorganisation Betar.

Imposant ist neben Jabotinskys politischem und feuilletonistischem auch sein philologisches und literarisches Œuvre, das in Jerusalem postum als 18-bändiges Gesamtwerk von seinem Sohn Eri ediert wurde. Neben sprachwissenschaftlichen hebraistischen Beiträgen (The Hebrew Pronunciation, 1930 und Taryag Millim: 613 Hebrew Words, 1938) stehen Übersetzungen weltliterarischer Werke ins Hebräische (darunter Juvenals Spartacus, Gedichte von Poe, Verlaine, Rostand, Soularis, Teile aus Dantes Divina Commedia, Goethes Faust und Omar Khayyams Rubaiyat) sowie zwei umfangreiche Prosawerke. Das Epos über die biblische Simson-Gestalt, 1926 als Samson Nazorej auf Russisch veröffentlicht, erschien in Deutschland unter dem Titel Richter und Narr 1928, 1930 neu aufgelegt als Philister über dir, Simson! (1930).

familienroman Jabotinskys zweiten, erstmals 1936 in Paris unter dem Titel Pyatero publizierten Gesellschaftsroman, hat nun verdienstvollerweise der Verlag Die Andere Bibliothek unter dem Titel Die Fünf erstmals auf Deutsch vorgelegt, versehen mit einer Fülle brillanter interpretatorischer Fußnoten. Das Werk ist ein elegischer Lobgesang des Autors in Form einer Vergangenheitsreise in die Stadt seiner Jugend, das Odessa um die Wende des 20. Jahrhunderts.

Die Metropole am Schwarzen Meer ist geprägt von einer »friedlichen Verbrüderung der Völkerschaften«, in der das Ukrainische und das Russische, das Jiddische und das Deutsche, das Armenische und das Griechische koexistieren. Erzählt wird die Geschichte der Milgroms, einer bürgerlich-jüdischen Familie. Fünf Geschwister – Marussja, Marko, Lika, Serjoska und Torik – wachsen in den politisch-kulturellen Wirren zwischen revolutionärer Gewalt und Assimilation in dieser kosmopolitisch-toleranten Stadt heran.

Doch es bildet sich auch hier eine Welt heraus, die von Sexualität, Geheimnissen und Ränken erfüllt ist. Während wir das in kräftigen Farben geschilderte dekadente Fin de Siècle in Russland mit dessen Niedergang erleben, vollzieht sich parallel ein ebenso theatralisches wie tragisches Menschenschauspiel: der Verfall der Familie Milgrom.

Milde ist gleichwohl das Lebensfazit des auktorialen Erzählers: »Eines ist wohl bereits bewiesene historische Wahrheit: Nur über den Verfall gelangt man zur Restauration.« Zu Recht schrieb 1992 die amerikanische Koryphäe für russisch-jüdische Literatur, Alice Nakhimovsky: »Anders als Samson, ist Die Fünf nicht nur ein auf Russisch geschriebener, sondern ein russischer Roman.«

Vladimir Jabotinsky: »Die Fünf«. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Übersetzung der Lyrik von Jekatherina Lebedewa. Die Andere Bibliothek, Berlin 2012, 350 S., 36 €

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