Nachruf

Chronist einer ganzen Epoche

Michel Bergmann (1945–2025) starb am 15. Juni in Berlin Foto: Astrid Schmidhuber

Das war’s. Niemals mehr wird Michel Bergmann jemanden anrufen. Man erinnert sich an seine gütige Stimme, den verschmitzten Blick, die immer einen Tick zu langen, feiner werdenden Haare, die er unter einer Baseball-Mütze verbarg. Wer meinte, einen älteren, sanftmütigen Herrn vor sich zu haben, übersah, dass dieser mit sanftem Röntgenblick seine Mitmenschen durchschaute, ihre Marotten registrierte, Situationen vor allem in ihren Absurditäten für sein innerliches Archiv scannte und im geeigneten Moment abrufen und in seine Romane, Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke einbauen konnte.

Michel Bergmann war der geborene »schrajber«, Erzähler, Chronist seines eigenen Lebens wie einer ganzen Epoche, mit Gespür für Timing und Dialoge, später auch Produzent und Regisseur. Geboren wurde er am 6. Januar 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in Riehen bei Basel, wuchs in Paris und Frankfurt auf. Hinter diesen schlichten Fakten türmt sich Zeitgeschichte auf, voller kleiner Dramen, die Bergmann mit Humor, Mitgefühl und Scharfsinn wahrnahm und reflektierte.

Die größte Selbstkontrolle verlangte ihm das Krimigenre ab

Das journalistische Handwerkszeug lernte er bei der »Frankfurter Rundschau«. Sein erfolgreicher Weg in der Filmbranche war gepflastert mit Beiträgen für sehr unterschiedliche Genres. Das reichte von Beiträgen für Vorabendserien wie Hagedorns Tochter bis zu Otto – Der Katastrofenfilm. Die größte Selbstkontrolle verlangte ihm das Krimigenre ab: Jeder Leser sei ein Kommissar. Das galt natürlich auch für Zuschauer, wenn er für den Polizeiruf 110 oder die Vorabendserie SOKO Wismar schrieb. Seine Wege kreuzten sich dabei immer wieder erfolgreich mit denen seiner Frau, der Filmemacherin Anke Apelt, mit der er etwa das Drehbuch für die Komödie Bis dass dein Tod uns scheidet (2001) gemeinsam schrieb, ebenso wie den historischen Roman Die Ärztin (2010) unter dem leicht durchschaubaren Pseudonym Anke Michel.

Zu Höchstform lief Bergmann auf, wenn es um jüdische Befindlichkeit in der Nachkriegszeit ging. 2010 erschien sein Roman Die Teilacher. Der Begriff bezieht sich auf die jiddisch-berlinerische Bezeichnung für Handelsreisende. Die Hauptfigur, David Bergmann, gilt als »Einstein unter den Teilacher«, also ein Verkaufsgenie, das den Leuten an der Tür Wäschepakete und Decken andreht. Das war auch die Branche von Bergmanns eigenem, früh verstorbenem Vater. Wenn der sich mit seinen Kameraden, Überlebenden wie er, im Stammcafé traf, kam es zu Dialogen wie diesem: »Und, hat’s geschmeckt?« – »Habʼ schon besser gegessen!« – »Aber nicht bei uns.«

Dieser erste Roman war keine Autobiografie, jedoch inspiriert von der Überlebensgeschichte der Eltern und ihrer Freunde, die ihr Auskommen »im Land der Mörder« suchten. Michel Bergmann widmete diesen Roman an erster Stelle seinem Sohn Emanuel, »dem ich zeigen wollte, woher ich komme«. Und er setzte diesen Ansatz fort in den Machloikes (2011). Wie es das jiddische Wort besagt, geht es dabei um ein »Durcheinander«, jede Menge Zwist im Umfeld der Teilacher. Aus den beiden ersten Teilen der Trilogie entwickelte der belgische Regisseur Sam Garbarski, basierend auf dem Drehbuch von Michel Bergmann, 2016/2017 den Film Es war einmal in Deutschland.

Bergmann wollte jedes Jahr einen Krimi veröffentlichen

Wer befürchtete, dass Bergmann nach dem dritten Teil Herr Klee und Herr Feld (2013) nichts mehr zu diesem Thema einfiele, wurde schon 2014 eines Besseren belehrt.

Da erschien die Erzählung Alles was war, 125 Seiten schmal, aber mit mehr Gewicht als eine opulente Familiensaga. Der Ich-Erzähler sitzt gegenüber seinem ehemaligen Zuhause und hängt Erinnerungen nach. Auf einmal springt ein zehnjähriger Junge aus dem Haus: »Ins Leben. Es ist sein Tag! Wie jeder Tag sein Tag ist.« Mit dieser im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaften Episode gelingt Bergmann der Zeitsprung in die eigene Kindheit, die er in 13 Kapiteln unter Schlagworten wie »Risches« (Judenhass), »Kasches« (Fragen) und »Schlamassel« (Pech) Revue passieren lässt.

Tröstlich klingen die Sätze: »Er wird im Leben Umwege gehen, wird sich in Abenteuer stürzen, wird lieben und geliebt werden (…). Es wird ein gutes Leben sein, trotz vieler Rückschläge und Schmerzen. Und trotz des dramatischsten Verlustes.«

Diese dunkle Anspielung sollte erst 2023 in Mameleben oder das gestohlene Glück aufgeklärt werden. Darin geht es um das Schicksal der zweimal verheirateten Mutter, der es der Sohn Michel nie recht machen konnte – weder mit der Wahl seines Berufes noch mit der seiner Ehefrauen.

Eingeschoben war diese letzte Auseinandersetzung und Versöhnung in ein weiteres Projekt mit dem Titel Der Rabbi und der Kommissar. Mit Blick auf die Zehn Gebote sollte es eine zehnbändige Reihe werden. Dazu meinte der Autor 2021 in einem Interview mit der »Jüdischen Allgemeinen«: »Ich habe die Absicht, steinalt zu werden, und bis dahin möchte ich jedes Jahr einen Krimi herausbringen.« Drei sind es geworden, wobei er schon an Drehbüchern dazu arbeitete.

Als Co-Autor gewann er Sohn Emanuel, selbst ein namhafter Autor. Vielleicht wird dieser das Vermächtnis weiterführen, nachdem Michel Bergmann sich am 15. Juni nach kurzer, schwerer Krankheit für immer verabschiedet hat – und mit ihm ein Stück jüdische Zeitgeschichte.

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