Lesen

Bücher für den Urlaub I

Hummus verbindet Menschen. Foto: Getty Images / istock

Aus dem Leben eines Autors

Wenn ein berühmter Autor stirbt, werfen Verlage schnell eine Neuauflage seiner Kurzgeschichten oder ein unbekanntes Frühwerk auf den Markt. Amos Oz, der zu den wichtigsten israelischen Schriftstellern gehörte, verstarb am 28. Dezember. Und tatsächlich hat Suhrkamp bereits ein neues Werk von ihm am Start. Doch Was ist ein Apfel? gehört nicht zu dieser Kategorie der verzichtbaren Resteverwertung. Das Buch von Amos Oz und seiner Lektorin Shira Hadad ist das Gegenteil davon. Was ist ein Apfel? ist wie ein Podcast mit einer stundenlangen Unterhaltung, bei der Oz und Hadad sich über die Arbeit und das Leben des Autors austauschen – im letzten Kapitel auch über seine Vorstellung von Tod und Sterben. Und das auf hohem Niveau, aber so unterhaltsam, dass man immer weiter zuhören möchte.  Andreas Heimann

Amos Oz mit Shira Hadad: »Was ist ein Apfel?«. Suhrkamp, Berlin 2019, 174 S., 20 €

Freud und die Religion

Warum hat keiner von all den Frommen die Psychoanalyse geschaffen, warum musste man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?« Diese berühmte Frage an seinen Briefpartner Oskar Pfister aus dem Jahr 1918 ist ein typischer Freud. Vielschichtig, humorvoll, pessimistisch, scharfsinnig, vordergründig widersinnig, hintergründig tief verwurzelt in der jüdischen Tradition. Ein Lob der Ambivalenz. Der New Yorker Analytiker und Philosoph Joel Whitebook widmet in seinem 560 Seiten starken Werk zu Freuds Leben und Denken nicht nur das Anfangs- und das Schlusskapitel Freuds Beziehung zur Religion seiner Väter; immer wieder analysiert er Freuds jüdische Herkunft, sein präzises jüdisches Denken, seine strenge jüdische Moral. Freud sah sich in der Tradition häretischer jüdischer Denker wie Spinoza, betonte seinen Atheismus, bemerkte aber zum Ende seines Lebens, sicher mit intellektuellem Spot, nie sei ein besserer Jude über die Erde gewandelt als er. Für Freud war die größte Leistung des jüdischen Volkes die umfassende Ausarbeitung eines monotheistischen, entmaterialisierten und transzendenten Weltbildes. Für Whitebook knüpft Freud mit seiner Theorie an das Wesentliche des Jüdischen, die mosaische Tradition, an: den Fortschritt der Geistigkeit, verbunden mit kritischer Strenge und einer Feindseligkeit gegenüber Bildern und Idolen. Whitebooks Werk erregte Aufsehen wegen der Neudeutung von Freuds komplizierter Mutterbindung. Um es kurz zu machen: Weder die Depressionen der Mutter noch der Krach mit C.G. Jung oder die entwertete weibliche Sexualität in Freuds Werk bieten Freudkennern essenziell Neues. Whitebooks Gedanken und Ideen zu Freuds Behauptung, die mosaische Tradition vollende sich in der Psychoanalyse, machen sein Buch jedoch zu einem intellektuell herausfordernden Lesevergnügen.  Maria Ossowski

Joel Whitebook: »Freud. Sein Leben und Denken«. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 559 S., 32 €

War es so, wie es war?

Prägnante Schmucklosigkeit, wohlgesetzte Lakonie, das war Natalia Ginzburgs erzählerisches Kennzeichen. Kürze war ihr Stilwille. Schon mit zehn Jahren war die jüngste Tochter des Anatomieprofessors Giuseppe Levi davon überzeugt, Schriftstellerin zu werden; sie schrieb damals jeden Tag ein Gedicht. Als sie 17 war, wurde ihr erster Text gedruckt. »Wenn ich Geschichten schreibe«, so die Autorin, 1916 in Palermo geboren und 1991 in Rom verstorben, die 40 Jahre lang als Lektorin im literarisch wichtigen Turiner Verlag Einaudi arbeitete, »bin ich wie einer, der in seiner Heimat ist, auf den Straßen, die er von klein auf kennt, zwischen den Mauern und den Bäumen, die ihm gehören.« 1947 sorgte sie mit ihrer ersten Nachkriegsbuchveröffentlichung für einen Literaturskandal. Denn in So ist es gewesen, erst 45 Jahre später ins Deutsche übersetzt, erzählt sie die Geschichte einer Frau, die ihren Mann in den Kopf schießt. Doch viel aufregender gestaltet Ginzburg den Bericht des Lebens dieser Frau zwischen Ängsten und Sehnsüchten, bitterer Ernüchterung und Betrug. Die Berliner Schauspielerin Eva Mattes las 2005 diese noch heute überzeugende Prosa angenehm zurückgenommen und bar jeder Effekthascherei ein. Fein, dass diese Lesung nun wieder lieferbar ist und an Ginzburg erinnert, die hierzulande zu Unrecht ins Halbvergessen abgesunken ist.  Aviv Roth

Natalia Ginzburg: »So ist es gewesen«. Audio, Berlin 2019, 190 Min., 11 €

Der heimliche Superstar

Maimonides oder auch Rambam oder Mosche Ben Maimon war ein Renaissance-Mensch, Jahrhunderte bevor die Renaissance überhaupt einsetzte. Der um 1136 im spanischen Córdoba geborene Toragelehrte, Nagid, Rabbi, Philosoph, Astronom, Rechtsexperte und Arzt ist für die jüdische Philosophie, was Bach für die klassische Musik bedeutet: der Übervater, der, an dem sich abgearbeitet wird. Ohne Maimonides kein Spinoza, kein Mendelssohn, kein Rosenzweig. Warum gibt es eigentlich keinen Maimonides-Hype mit Verfilmung und Merchandise? Vielleicht, weil dieser einzigartige Mann nur schwer zu fassen ist, weil die Faktenlage dünn und die Legendenbildung ausladend ist. Einen tiefen Einblick in die ferne und doch so nahe Welt des Rambam erlaubt Joel L. Kraemers jetzt ins Hebräische übersetzte Maimonides-Biografie. 60 Jahre lang hat der Philosophieprofessor Kraemer zu Maimonides geforscht. Herausgekommen ist sein Meisterstück über das Lebenswerk dieses Ausnahmemenschen, der in Ägypten Leibarzt des Sultans war, zugleich den jüdischen Gemeinden im Nahen Osten und Europa Hoffnung gab und der mit seinem bis heute diskutierten Hauptwerk Moreh Nevuchim (Führer der Unschlüssigen) lange vor der Aufklärung über das Spannungsfeld zwischen Religion und Wissenschaft nachsann. Kraemer hat Tausende Dokumente eingesehen und geprüft, darunter sogar erhaltene Briefe, und aus all dem das beeindruckende Porträt eines Mannes und seiner Zeit geschaffen. Eines Mannes, dessen Gedanken bis heute wirken.  Sophie Albers Ben Chamo

Joel L. Kraemer: »Maimonides«. Resling Books, Tel Aviv 2019, 129 NIS

Aus Liebe zur Kichererbse

Auf Japanisch heißt sie Hiyokomame, auf Französisch Pois Chiche, und wir kennen sie ganz schlicht als Kichererbse. Dieser Hülsenfrucht, die in subtropischen Gefilden wächst, ist das vielleicht schönste Kochbuch des Jahres gewidmet: On the Hummus Route. Und diese Route ist speziell, weil eigentlich nur im Kochbuch bereisbar: Sie führt durch die Hummus-Hauptstädte des Nahen Ostens – durch Kairo, Gaza, Jaffa, Tel Aviv, Jerusalem, Nazareth, Akko, Beirut und Damaskus. Alle Städte vereint die Kichererbse und die Menschen, die sich täglich von Halabessa, einer Tomaten-Kichererbsen-Suppe aus Kairo, Falafel Hakosem, der Spezialität des Restaurants des Autors Ariel Rosenthal in der Schlomo-HaMelech-Straße in Tel Aviv, Balila, Knoblauch-Kreuzkümmel-Kichererbsen aus Beirut, oder Yakhni, einem Lamm-Kichererbsen-Eintopf aus Damaskus, ernähren. Ergänzt werden die Rezepte durch beeindruckende Fotos, persönliche Geschichten und viel Wissenswertes rund um die Erbsen, die übrigens auch auf dem zum Buch gestarteten Instagram-Account in zubereiteter Form bestaunt werden können.  Katrin Richter

Ariel Rosenthal, Orli Peli-Bronshtein, Dan Alexander: »On the Hummus Route: A Journey Between Cities, People, and Dreams«. Magica 2019, 408 S., 248 NIS

Eine deutsche Familiengeschichte

Elsie war eine sehr selbstbewusste Teenagerin. Sie liebte das Leben in Groß-Glienicke bei Berlin besonders. Ihr Vater, der Arzt Alfred Alexander, hatte das Sommerhaus 1927 als Wochenendhaus für die Familie gebaut. Die Datsche am See wurde schnell zum »Ort für die Seele« für die ganze Familie, noch verstärkt durch die einsetzende antisemitische Diskrimierung im Alltag und später die Flucht nach England 1936.

Thomas Harding ist Journalist und der Enkel von Elsie Alexander. Diesem Umstand verdanken wir diese spannende, flüssig geschriebene und reich bebilderte dokumentarische Erzählung. Anhand des Sommerhauses werden fünf mit der deutschen Geschichte eng verwobene Familiengeschichten erzählt. Die Erzählung setzt 1890 mit der Familie des Gutsbesitzers ein, von denen die Alexanders das Grundstück pachteten. Nach deren Flucht wurde es von dem Komponist und Musikverleger Will Meisel bezogen.

In den folgenden Kapiteln geht es um musikalische Hits in der NS-Zeit, Arisierungen und Beschlagnahmung. Es geht um Krieg und Bombardierung und um die Einnahme des nahe am Flugfeld Gatow gelegenen Ortes durch sowjetische Soldaten. In der Nachkriegszeit geht es weiter mit Entnazifizierung und Enteignung bis zum Mauerbau quer über das Grundstück. Der Zugang zum See ist bis 1989 versperrt: Leben in der DDR. Im Sommerhaus wohnen zeitweise zwei Familien mit Kindern gleichzeitig. Es geht auch um vertuschte Morde – so viel sei noch gespoilert. Nicht weniger spannend sind die Erzählungen aus der Nachwendezeit sowie der Kampf um das verfallene Haus. Aufgrund der Initiative von Thomas Harding und Mitstreitern vor Ort wird das Sommerhaus bald zu einer Begegnungsstätte. Hannah Dannel

Thomas Harding: »Sommerhaus am See. Fünf Familien und 100 Jahre deutscher Geschichte«. dtv, Berlin 2019,432 S., 14, 90 €

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