Lesen

Brücke zwischen den Generationen

Noah Klieger und Takis Würger in Tel Aviv (März 2018) Foto: Jonas Opperskalski/ Penguin-Verlag

Ein Familienausflug nach Auschwitz, eine Hommage an ermordete Angehörige, über die jahrzehntelang Schweigen herrschte, Tragikomik und schrille Töne: Yasmina Rezas Roman Serge, der wenige Tage vor dem Internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus auf deutsch erschien, lässt aufmerken. Hier kann sogar gelacht werden, wenn Vater Serge seine Tochter anherrscht: »Osvitz!! Wie die französischen Goys! Lern erst mal, das richtig auszusprechen. Auschwitz! Auschschschwitz!«

Betroffenheit »Es ist bestimmt ein neuer Anfang von Holocaustliteratur, der nicht weniger und nicht mehr besagt, dass das Thema nicht erledigt ist, weil es sich über die Generationen hinweg zieht«, sagt Christoph Heubner, Vize-Exekutivpräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, über Serge. »In der Familie liegt eine schlafende Tragödie, die aber allen bewusst ist. Mit dem Tod der eigentlichen Betroffenen ist die Betroffenheit nicht vorbei.«

Das dürfte auch für die Literatur über den Holocaust insgesamt gelten. Anfangs waren die Autoren Betroffene, Überlebende, teilweise im Widerstand engagiert, die das zur Sprache bringen wollten, was viele, gerade in der frühen Bundesrepublik, nicht hören wollten: Primo Levi, Imre Kertész, Tadeusz Borowski, Jean Améry, Paul Celan - es war die Erlebnisgeneration, die versuchte, ein Trauma zu verarbeiten. Selbst manches Wort musste erst noch gefunden werden: Der Begriff »Holocaust« setzte sich dank des gleichnamigen US-Fernseh-Mehrteilers durch, 1985 prägte Claude Lanzmann mit seinem Dokumentarfilm Shoah einen Begriff für den nationalsozialistischen Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden.

Perspektiven Doch mit neuen Lesergenerationen haben sich auch Töne und Perspektiven verschoben, erläutert Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen. Die Universität ist bundesweit die einzige, an der Holocaustliteratur einen eigenen Schwerpunkt hat. »Es gibt immer noch überwiegend stark an die Realität angelehnte historische Romane als größte Gruppe der Holocaustliteratur«, sagte Feuchert. »Das geht bis in populäre Genres, die mitunter einen sehr problematischen Umgang mit der historischen Wahrheit haben.«

Aber es kommen auch neue Themen dazu wie zum Beispiel die Wirkung der Traumata in den Familien. Ein dritter großer Bereich ist die Behandlung der Gedenk- und Erinnerungskultur.

»Ich glaube, dass die fiktionale Literatur auch eine wichtige Rolle spielt in der Zeit ohne lebende Zeitzeugen, die nun langsam endgültig anbricht«, meint Feuchert zur Bedeutung von Literatur über den Holocaust. »Denn Geschichte braucht immer wieder Aktualisierung durch Geschichten.«

Romane bauten da eine Brücke für neue Lesergenerationen. Gelungene Beispiele hierfür seien etwa 28 Tage lang, ein Roman von David Safier über den Aufstand im Warschauer Ghetto, oder Die Bibliothekarin von Auschwitz von Antonio Iturbe. Für problematisch hält er hingegen Texte wie Der Tätowierer von Auschwitz, der Auschwitz zur Kulisse mache und sogar eine Richtigstellung durch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ausgelöst habe.

Verdrängung Mit Noah hat Takis Würger die Geschichte eines Holocaust-Überlebenden aufgezeichnet und auch Christoph Heubner hat mit seinem Erzählband Durch die Knochen bis ins Herz die Erinnerungen von Überlebenden, die er viele Jahre lang begleitet hat, niedergeschrieben. »Ihre Stimme gegen Verdrängung war ganz laut, auch wenn sie keine Bücher geschrieben haben«, sagt er über das Buch. »Mir war es wichtig, ihre Stimmen zu bewahren.«

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

»Ich bin sehr froh, dass das literarische Sprechen über Auschwitz nicht verstummt, denn das wäre so ziemlich das Schlimmste, was uns passieren könnte, wenn das Sprechen über Auschwitz oder den Holocaust aufhört«, sagt Feuchert im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

»Ich glaube, Literatur hat den großen Vorteil, dass sie hohe emotionale Nähe herstellen kann, Empathie erzeugen kann. Letztlich gibt es auch nicht die eine Holocaust-Geschichte, sondern es gibt viele Blicke auf den Holocaust. Jede Opfer-Geschichte ist individuell, das darf die Literatur ruhig illustrieren.«

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  02.12.2025

Streaming

Gepflegter Eskapismus

In der Serie »Call my Agent Berlin« nimmt sich die Filmbranche selbst auf die Schippe – mit prominenter Besetzung

von Katrin Richter  02.12.2025

Jean Radvanyi

»Anna Seghers war für mich ›Tschibi‹«

Ein Gespräch mit dem Historiker über die Liebesbriefe seiner Großeltern, Kosenamen und hochaktuelle Texte

von Katrin Richter  02.12.2025

TV-Kritik

Politisierende Ermittlungen

In »Schattenmord: Unter Feinden« muss eine arabisch-stämmige Polizistin den Mord an einem jüdischen Juristen aufklären

von Marco Krefting  02.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025