Theaterkritik

Britischer Klassiker im schillernden jüdischen Gewand

Wenn auf der Bühne Mother Hoodman ein Schwein küsst und ihrer Mutter erklärt, dass sie sowieso nicht koscher lebt, ist in London das Happy End nah. Es geht aber nicht um ein gewöhnliches Schwein. In Rotkäppchen und das große, böse Schwein ist der Mann im rosafarbenen Anzug und Krawatte der reformierte Bösewicht, der zur Überraschung aller sogar jiddische Lieder singt.

Im jüdischen Kulturzentrum JW3 im Norden Londons hat man die in Großbritannien traditionell zu Weihnachten gespielte Pantomime in ein jüdisches Milieu verlegt und einen Knaller geschaffen. Pantomimes sind auf der Insel pure Unterhaltung und beliebt. Bekannte Märchen bilden die Grundlage für ein Theaterstück, das mit Musik, Tanz und Comedy aufgepeppt wird. Für Kinder ist diese Familienshow oft das erste Theatererlebnis.

Für die erste Voraufführung im JW3 gab es sogar eine Warteliste, die Stimmung war freudig-erwartend. Der Abend verspricht viel Spaß und Innovatives – und hält viel. Hier nimmt es Rotkäppchen auf sich, Chanukka zu retten. Doch immer häufiger wird berichtet, dass jüdische Großmütter verschwinden. Außerdem steigen die Energiepreise. Dahinter steckt das große böse Schwein, das den ehemals bösen Wolf domestiziert hat. Der Wolf generiert mit seiner Puste Energie für das Schwein, die es gegen hohe Kosten an die Bevölkerung verkauft. Um selbst die Energie für all die Puste zu bekommen, frisst der Wolf jüdische Großmütter, denn sie sind die stärksten.

Die Highlights des von Nick Cassenbaum geschriebenen Stücks sind die Figuren, die Freude am jüdischen Leben und der Bezug zu London. Rotkäppchen, selbstbewusst und clever, möchte Wissenschaftlerin werden. Ihre Mutter sähe sie natürlich lieber mit einem jüdischen Anwalt oder Arzt verheiratet. Ist im Publikum nicht ein geeigneter Kandidat? Wenn nicht für die Tochter, dann vielleicht für die Mutter selbst?

Diese ist übrigens mit ihrer eignen Mutter verkracht. Rotkäppchen kann es jedoch keinesfalls zulassen, dass ihrer Großmutter etwas geschieht und macht sich auf den Weg zu ihr durch den Wald – zu einer patenten, fitten Frau, die man besser auf seiner Seite hat. Als der Wolf kommt, hat sie ihn mit wenigen Handgriffen an den Stuhl gefesselt, bevor sie sich aufmacht, das Schwein ebenfalls zur Strecke zu bringen.

Um für den Weg zur Oma gut ausgerüstet zu sein, nimmt Rotkäppchen einen Chanukka-Leuchter mit, damit sie im dunklen Wald genug Licht hat, Latkes als Proviant und etwas Chanukka-Geld. Letzteres wird nützlich, als sie sich im Wald verirrt und zu ihrer Rettung eine Ratte kommt, die Taxifahrer ist. Derzeit kann sie sich nur noch einen Scooter leisten, aber die Szene ist eine großartige Referenz an den verstorbenen jüdischen Autor Jack Rosenthal und seinen Film The Knowlegde (1979). Dieser zeigt, welche Straßenkenntnisse angehende Taxifahrer in London erwerben müssen, um eine Lizenz zu erhalten. Mithilfe eines Tricks gelingt es Rotkäppchen, den von ihr unwissentlich befreiten Wolf zu bezwingen. Der gleiche Trick hilft, das Schwein zu besiegen.

Mitreißend ist der Klezmer des musikalischen Leiters Josh Middleton. Ansonsten werden, wie bei Pantomimes üblich, bekannte Melodien mit neuen Texten versehen. So ergeben sich herrliche Momente, als Rotkäppchen Barbra Streisands Hit Don’t Rain On My Parade singt. Dabei sind ebenso moderne Titel wie Amy Winehouse’ Rehab, jiddische Klassiker wie Chiribim Chiribom der Barry Sisters und traditionelle Chanukka-Songs wie Channukka oy Channukka.

Regisseurin Abi Anderson hat ein großartiges Team um sich versammelt, das die typischen Figuren des Pantomime glänzen lässt: Gemma Barnett gibt ein sympathisches, ambitioniertes Rotkäppchen. Debbie Chazen füllt als Mother Hoodman wunderbar die Rolle der jüdischen Mamme. Josh Glancs Schwein ist ein charmanter Bösewicht mit viel Humor und Tiago Fonsecas jüdische Großmutter ist voller Überraschungen und ein Vergnügen zuzuschauen. Die Pantomime gleicht einem kleinen Chanukka-Wunder. Das Publikum geht glücklich nach Hause.

Meinung

Wir erleben eine Zäsur

Eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens ist in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Was bedeutet das für unsere Zukunft?

von Ayala Goldmann  05.11.2024

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  05.11.2024

Film

Debatte gegen den Tod

Jurijs Saule inszeniert in »Martin liest den Koran« provokant eine thrillerhafte Diskussion über religiösen Extremismus und die Auslegung von Glaubensgeboten

von Jens Balkenborg  05.11.2024

Nachruf

»Also sprach Zarabauer«

Yehuda Bauer war nicht nur Historiker, sondern auch ein begnadeter Redner mit viel Humor

von Laurence Weinbaum  04.11.2024

Dokumentation

»Ein Bürger, ein Demokrat, ein Humanist, der für uns aufbegehrt«

Friedman erhält die Goethe-Plakette. Lesen Sie die Laudatio von Carolin Emcke

von Carolin Emcke  04.11.2024

Nachruf

Abschied von einem genialen Musiker und Produzenten

Quincy Jones produzierte Michael Jackson. Auch er selbst lieferte Unmengen an Musik

von Imanuel Marcus  04.11.2024

Hito Steyerl

Künstlerin mit Kompass

In ihrer Ausstellung »Normalität« setzt sich die Filmemacherin mit antisemitischer Gewalt auseinander

von Eugen El  04.11.2024

Literatur

Volker Kutscher veröffentlicht seinen letzten Rath-Roman

Dieser Band endet mit den November-Pogromen im Jahr 1938

von Christiane Laudage  04.11.2024

Geburtstag

Biermann will sich nach seinem Tod nicht langweilen

Im Gespräch denkt der jüdische Ex-Kommunist auch über die Liebe nach

von Bernhard Sprengel  04.11.2024