Analyse

Sandalen und Springerstiefel

Schoa-Relativierung bei Protesten in Frankfurt gegen die Corona-Maßnahmen Foto: imago images/Hannelore Förster

Analyse

Sandalen und Springerstiefel

Ein neues Sachbuch über die »Querdenker« weist nach, dass die Bewegung jeden Demokraten zutiefst besorgen muss

von Ralf Balke  22.04.2021 09:29 Uhr

Auf den ersten Blick wirkt alles wie schon tausendmal gesehen. Hippies und Hausfrauen, Hipster und Rentner marschieren gemeinsam unter bunten Regenbogenflaggen. Aus Lautsprechern ertönt Musik, Menschen beginnen zu tanzen oder zu trommeln. Doch dann sieht man immer wieder Symbole, die für Irritationen sorgen. Mal sind es Reichskriegsflaggen, mal »Judensterne«, die sich Teilnehmer dieser Demonstrationen an ihre Jacken genäht haben, auf denen in Frakturschrift »Ungeimpft« steht.

Sie alle bezeichnen sich als »Querdenker« und gehen seit nunmehr einem Jahr regelmäßig in Berlin, Stuttgart oder München auf die Straße, um – selbstverständlich ohne Gesichtsschutz – gegen die Maßnahmen zu protestieren, die anlässlich der Coronavirus-Pandemie in Kraft getreten sind.

Bei den »Hygienedemos« gibt es null Abstand zu Neonazis und anderen Extremisten.

Damit zeigt sich bereits ein grundlegendes Problem: Ihre Akteure ignorieren auf den sogenannten Hygienedemos nicht nur sämtliche Vorschriften zum Schutz vor Infektionen und tragen somit zur weiteren Verbreitung des gefährlichen Virus bei. Darüber hinaus zeigen die Demonstranten keinerlei Distanz zu demokratiefeindlichen Bewegungen.

ideologien Kurzum, es gibt null Mindestabstand zu Rechtsextremen, Antisemiten und anderen Extremisten, was dann auch den Titel des neuen Sammelbands Fehlender Mindestabstand – Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde erklärt, der von Matthias Meisner und Heike Kleffner, zwei ausgewiesenen Kennern der Neonazi-Szene, jetzt herausgegeben wurde. Mehrere Dutzend Autorinnen und Autoren werfen darin einen genaueren Blick auf diese schrille Szene sowie ihre Stichwortgeber und skizzieren die Ideologien, die sich dahinter verbergen.

»Ich habe keine Ahnung, ob ihr jetzt nach Hause fahrt und eure Frauen oder Männer verprügelt, ob ihr gewalttätig seid, ob ihr euch kinderpornografisches Material anschaut oder ob ihr Hitlerkreuze an die Wände malt«, zitieren die Herausgeber aus einer Querdenker-Rede, die diese Gesinnung exemplarisch auf den Punkt bringt. »Das ist mir auch völlig schnuppe. Ihr seid hier, weil wir gemeinsam für eine Sache stehen.«

reichsbürger Diese rechtsoffene oder auch -affine Haltung ist kein Zufall, sondern Programm. Und sie fiel nicht aus heiterem Himmel. Denn Reichsbürger, impfskeptische Esoteriker oder Anhänger von Verschwörungsnarrativen, die an Geheimgesellschaften glauben sowie wahlweise von einer »Neuen Weltordnung« oder dem »Deep State« halluzinieren, existierten schon vorher.

Auch die sogenannte Mahnwachenbewegung, die im Jahr 2014 eine kurze Blütezeit erlebt hatte und Akteure wie den umstrittenen Radiomoderator Ken Jebsen oder Jürgen Elsässer, den Chefredakteur der schrillen Rechts­außen-Postille »Compact«, mit einigen versprengten linken Amerika-Hassern oder Assad-Fans zusammengebracht hatte, darf durchaus als ihr Nährboden betrachtet werden. Nun aber hat die Pandemie sie alle vereint und zu einer Protestbewegung geformt, die Regelbrüche und unsolidarisches Verhalten quasi zum Prinzip erklärt hat.

Der Antisemitismus erweist sich dabei oftmals als die große Klammer in dieser heterogenen Szene, die merkwürdige Blüten treibt, wie Josef Schuster in dem Vorwort zu dem Buch schreibt. »Zugleich entstand die paradoxe Situation, dass die Coronaleugner einerseits Juden als Täter identifizieren und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen«, so der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Von Anfang an waren bei den Demonstrationen gelbe ›Judensterne‹ in Anlehnung an die NS-Zeit zu sehen. Der Appell der Regierenden, möglichst zu Hause zu bleiben, wurde mit der Situation in den 40er-Jahren gleichgesetzt, als sich Juden verstecken mussten, um ihr Leben zu retten.«

verschwörungsdenken Dass es sich dabei keinesfalls um Einzelfälle handelt, betonen ebenfalls Felix Balandat, Nikolai Schreiter und Annette Seidel-Arpaci in ihrem Beitrag, der den Antisemitismus als das zentrale Ideologieelement bei den Coronaprotesten hervorhebt.

»Verschwörungsdenken und damit die Selbstinszenierung als Opfer verschwörerischer Machenschaften ist ein notwendiger Bestandteil des Antisemitismus. Der moderne Antisemitismus ist eine große Verschwörungserzählung, in der ›den Juden‹ die Rolle einer vermeintlichen kleinen, einflussreichen, elitären Gruppe zugeschrieben wird. Sie steuere die Weltgeschicke, schade damit ›dem Volk‹ und suche ihren eigenen Vorteil.«

Und was nicht passend ist, wird gerne passend gemacht. So wie die Nazis mehrfach den nichtjüdischen Milliardär John Rockefeller erwähnten, um gegen das »jüdische Großkapital« propagandistisch zu Felde zu ziehen, wird heute Bill Gates in einem Atemzug mit »den Rothschilds« oder »George Soros« genannt.

QANON Selbstverständlich darf in diesem Kontext die berüchtigte QAnon-Bewegung nicht unerwähnt bleiben, deren Verschwörungsnarrativ von den pädophilen und Kinderblut trinkenden Eliten – eine Neuauflage der judenfeindlichen Ritualmordlegende – seit Ausbruch der Pandemie einen Boom erlebt, wie Felix Huesmann schreibt.

So stieg die Zahl der Abonnenten für ihr wichtigstes Medium, den deutschsprachigen Telegram-Kanal »Qlobal Change«, in zehn Monaten von 21.000 auf mehr als 116.000. »Sichtbar wurde die neue Popularität von QAnon bereits im Frühjahr 2020 auch auf Kundgebungen und Demonstrationen gegen Corona-Schutzmaßnahmen.«

Der Antisemitismus ist oftmals die Klammer in der heterogenen Querdenker-Szene.

Welches Gefahrenpotenzial von den Querdenkern und ihrem Umfeld ausgeht, kommt ebenfalls in den Beiträgen immer wieder zur Sprache. Dabei stehen nicht nur die politisch Verantwortlichen im Visier einer sich zunehmend radikalisierenden und enthemmt agierenden Bewegung.

morddrohungen Auch Wissenschaftler wie Christian Drosten oder andere Experten erhalten massenhaft Morddrohungen, und im Oktober 2020 wurde in Berlin ein Brandanschlag auf das Robert-Koch-Institut verübt. Auch vor diesem Hintergrund ist das Zitat von der Journalistin Dunja Hayali aus dem Buch so treffend: »Wer mit Rechtsradikalen, mit Neonazis, Faschisten oder Antisemiten mitläuft, hat keine Ausreden mehr.«

Der Sammelband liefert also fundierte und detaillierte Einblicke in eine Szene, die aufgrund ihrer skurrilen Auftritte allzu oft belächelt oder verharmlost wird, tatsächlich aber jeden Demokraten zutiefst besorgen muss. Genau das macht dieses Buch so wichtig.

Matthias Meisner, Heike Kleffner (Hrsg.): »Fehlender Mindestabstand – Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde«. Herder, Freiburg 2021, 352 S., 22 €

Aufgegabelt

Iced Tahini Latte

Rezepte und Leckeres

 02.07.2025

Essay

Wenn der Wutanfall kommt

Kleine Kinder können herausfordern. Was macht das mit Eltern? Reflexionen einer Mutter

von Nicole Dreyfus  02.07.2025

Meinung

Die Erforschung von Antisemitismus braucht Haltung und Strukturen

Damit die universitäre Wissenschaft effektiv zur Bekämpfung von Judenhass beitragen kann, muss sie zum einen schonungslos selbstkritisch sein und zum anderen nachhaltiger finanziert werden

von Lennard Schmidt, Marc Seul, Salome Richter  02.07.2025

Nach Skandal-Konzert

Keine Bühne bieten: Bob-Vylan-Auftritt in Köln gestrichen

Die Punkband hatte beim Glastonbury-Festival israelischen Soldaten den Tod gewünscht

 02.07.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 3. Juli bis zum 10. Juli

 02.07.2025

Kino

Düstere Dinosaurier, frisches Starfutter

Neuer »Jurassic World«-Film mit Scarlett Johansson läuft in Deutschland an

von Ronny Thorau  01.07.2025

Berlin

Ausstellung »Die Nazis waren ja nicht einfach weg« startet

Die Aufarbeitung der NS-Zeit hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wendungen genommen. Eine neue Ausstellung in Berlin schaut mit dem Blick junger Menschen darauf zurück

von Lukas Philippi  01.07.2025

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025