Graphic Novel

Bilder, die einen nicht loslassen

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Graphic Novel

Bilder, die einen nicht loslassen

Ein gelungenes Experiment: Der Comic »Aber ich lebe« stellt eine neue Form des Zeitzeugenberichts dar

von Hadassah Stichnothe  22.10.2022 23:28 Uhr

»Ich erinnere mich nicht …« Der Satz steht am Ende der Seite über dem letzten Panel, das eine ältere Frau mit Brille an ihrem Küchentisch sitzend zeigt, den Blick in die Ferne gerichtet. Oben auf der nächsten Seite die Fortsetzung: »… wann dieses Foto gemacht wurde.« Dazu ein Bild derselben Frau, nun als kleines Mädchen, lachend auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie, einen Spielzeugpinguin im Arm.

Erinnern und nicht erinnern (können), darum geht es in ihrer Geschichte, und sie wird den Satz mehrfach wiederholen, während sie sie der Comiczeichnerin Barbara Yelin erzählt. Die Frau heißt Emmie Arbel, und sie wurde 1942 mit viereinhalb Jahren in das Durchgangslager Westerbork deportiert, danach ins KZ Ravensbrück verschleppt, schließlich nach Bergen-Belsen.

EMMIE ARBEL Emmie Arbel ist eine Kinderüberlebende des Holocaust und somit eine der letzten lebenden Zeitzeugen. Nicht selten haben diese ihre traumatischen Kindheitserinnerungen jahrzehntelang verdrängt, sie wurden durch den zeitlichen Abstand und die Transformationen eines Erwachsenwerdens nach der Schoa gezeichnet, verändert, vielleicht sogar überschrieben. Es ist ein unsicheres und doch so wichtiges Gedächtnis, dem nun drei renommierte Graphic Artists in der Anthologie Aber ich lebe nachspüren.

Der Band ist Teil eines internationalen Forschungsprojektes, das Wissenschaftler, Lehrende, Künstler und Überlebende für drei Jahre zusammenbrachte, um neue Wege der Wissensvermittlung und des Gedenkens zu erkunden. Die Erzählweise der Graphic Novel stellt dabei einen Versuch dar, eine Form des Zeitzeugenberichts zu finden, die nicht nur ansprechend für die jüngere Generation ist, sondern alle Beteiligten vor neue Herausforderungen stellte: Die Künstler mussten einen intensiven Austausch mit den Zeitzeugen suchen, und dieser Prozess der Suche nach einer angemessenen Darstellungsweise wird auch in den Erzählungen selbst immer wieder thematisiert.

Dabei machen alle drei von den Möglichkeiten visuellen Erzählens Gebrauch, Erinnerungsschichten, teilweise auch deren Überlagerungen und Leerstellen im Bild zu zeigen. So unterscheiden sich die Erinnerungen der Brüder Rolf und Nico Kamp, die in den Niederlanden im Versteck überlebten, in einigen Punkten deutlich, etwa wenn es um das Verschwinden ihrer beiden Lieblingskaninchen geht. Kamen sie zu Weihnachten oder Ostern auf den Tisch?

GILAD SELIKTAR Der Israeli Gilad Seliktar versucht gar nicht erst, diese Frage zu beantworten, sondern entscheidet sich für das Nebeneinander beider Versionen, die, im Detail divergierend, doch einstimmig vom Verlust sprechen, der vielleicht deswegen so lebhaft erinnert wird, weil er im Gegensatz zum Verlust des Vaters gerade noch erträglich scheint. Yelin nutzt dagegen immer wieder die gezielte Unschärfe der Darstellung und den Farbkontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die manchmal im scharfen Kontrast zur Erzählstimme der Zeugin stehen.

Die unterschiedlichen Schicksale verdeutlichen zudem die Vielgestaltigkeit des Grauens, aber auch des Überlebens in unterschiedlichen Ländern.

So beschreibt Miriam Libicki in »Jenseits der Regeln«, wie die Familie von David Schaffer aus der Bukowina nach Transnistrien deportiert wurde. Libickis farbenfrohe Palette und die großäugigen, fast naiv gezeichneten Figuren ermöglichen ihr, das Erlebte gewissermaßen aus Kinderperspektive nachzuempfinden. Dieser individuellen Formsprache als Ausdruck subjektiver Erfahrung stehen die angeschlossenen Sachtexte gegenüber, die den historischen Hintergrund weiter ausführen.

Aber ich lebe ist ein Experiment irgendwo an der Schnittstelle zwischen künstlerischer Interpretation und Dokumentation. Dass es gelingt, liegt an der Würde und Stärke der vier Überlebenden, aber auch am sensiblen Zugang der vier Künstler. Sein Nachwort widmet Nico Kamp all jenen Kindern, die sich nicht retten konnten und deren Ermordung für ihn »ein Bild, das mich nicht loslässt«, ist. Auch Aber ich lebe bietet Lesern Bilder, die einen nicht loslassen – im Gedenken an die Ermordeten und die, die leben.

Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar: »Aber ich lebe«. C. H. Beck, München 2022, 176 S., 25 €

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