Finale

Benis Welt

Ich habe mich immer für einen guten Juden gehalten. Bis vorigen Sonntag. Da war ich mit meiner kleinen Tochter in einem Freizeitpark. Sie wollte dort auf einem Esel reiten. Nicht nur sie, leider. Vor dem Grautierparcours saßen auf einer langen Bank eine gefühlte Million Jungen und Mädchen und warteten auf ihren Einsatz im Sattel. Vor ihnen stolze Väter mit Digitalkameras.

Sie schrien auf ihren Nachwuchs ein: »Lächeln! Moment! Noch nicht! Jetzt! Scheiße! Noch mal!« Ich war offenbar der Einzige, der keine Kamera dabei hatte. Das heißt, ich und ein religiöser Jude mit Hut und Zizit, der plötzlich neben mir stand. Er hatte in mir wohl den Glaubensgenossen erkannt, lächelte mich selig an und zeigte auf seine Töchter, drei Mädchen in gleichen Kleidchen und weißen Strümpfen, die artig nebeneinandersaßen und geduldig auf ihre Eselstour warteten.

Ich fühlte mich verpflichtet, etwas zu sagen: »Heiß, was?« Der fromme Mann lächelte mich noch seliger an als zuvor, antwortete aber nicht. Stattdessen nahm er ein religiöses Buch aus der Tasche, setzte sich auf eine Bank und lernte. Vielleicht hätte ich etwas Substanzielleres erzählen sollen, vom Talmud vielleicht. Aber davon habe ich zu wenig Ahnung. Ich wusste ja nicht einmal, worum es im nächsten Wochenabschnitt geht.

weggelaufen Ich fühlte mich plötzlich wie ein halber Goi. Schuldbewusst starrte ich auf den Zaddik, dann auf seine drei Mädchen, die sich gegenseitig ihre Röcke glatt strichen, anschließend ging mein Blick zum Esel und dem Platz, wo meine Tochter saß und wartete.

Sie saß aber nicht da. Sie war weggelaufen. Ich rannte durch den Freizeitpark, suchte die Kleine an der Kindereisenbahn, im Planschbecken, beim Eisstand und bei den Toiletten. Laut schrie ich »Ruth, Ruth, Ruth!«. Andere Männer kamen mir entgegen, die ebenso laut »Sofia, Sofia, Sofia!« brüllten, oder »Anna, Anna, Anna!«

Schließlich fand ich meine Kleine. Sie stand beim Streichelzoo und fütterte Ziegen. Ich ging mit ihr zurück zur Eselreitbahn. Aber ihr Platz in der Warteschlange war weg und in einer halben Stunde würde die Reitbahn schließen. Meine Tochter fing an zu weinen. Um sie zu trösten, setzte ich sie auf meine Schultern und brüllte laut »I-ah, I-ah, I-ah«.

Im selben Moment sah ich plötzlich wieder die fromme Musterfamilie. Der immer noch lächelnde Vater erzählte seinen Töchtern gerade die biblische Geschichte vom Esel Bileams, der sprechen konnte. Dann fiel sein Blick auf mich und er hörte auf zu lächeln. Stattdessen schaute er mich missbilligend an. Wahrscheinlich hatte ich eine halachische Regel verletzt, nach der es verboten ist, vor Sonnenuntergang Tierstimmen nachzuahmen. Vielleicht hielt er mich auch nur für einen Esel.

Nächsten Sonntag besuche ich mit meiner Tochter lieber das Schwimmbad. Da gehen so fromme Leute nicht hin.

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  10.12.2025

Kalender

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 11. Dezember bis zum 17. Dezember

 10.12.2025

Antisemitismus

Konzert-Comeback: Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Xavier Naidoo kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorwürfe, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  09.12.2025

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 09.12.2025

Sehen!

»Golden Girls«

Die visionäre Serie rückte schon in den jugendwahnhaftigen 80er-Jahren ältere, selbstbestimmt männerlos lebende Frauen in den Fokus

von Katharina Cichosch  09.12.2025

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025