TV

Bekenntnisse eines »Tatort«-Junkies

Kommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) Foto: rbb/(M)/Frédéric Batier

Meine Einstiegsdroge war Schimanski. Ich machte Abi in Bonn, als Götz George zum ersten Mal den Duisburger Kommissar gab. Der Typ war spontan, impulsiv, trug sein Herz auf der Zunge, fluchte, soff, prügelte sich und hing in Kneipen rum.

Er legte null Wert auf sein Äußeres, ihn scherte nicht, was andere von ihm dachten. Seine Freunde entstammten der Unterschicht des Ruhrgebiets, aufsässige Proletarier, Migranten, Prostituierte.

Polizisten Horst Schimanski war ein Stück Zeitgeist der 80er-Jahre. Er verkörperte die antiautoritäre Kultur, in der ich heranwuchs; ein sympathischer »Bulle«, der ständig die Hierarchien des Beamtenapparats sprengte. Ganz anders als die Polizisten, die mir auf den Anti-AKW-Demos gegenüberstanden. Die waren die Realität und der Tatort – natürlich – ein Märchen.

Seit 50 Jahren erzählt die ARD jeden Sonntag ein modernes Märchen namens Tatort. Die Geschichten sind erfunden, aber die Figuren hast du alle schon mal irgendwo getroffen, in der Schule, an der Uni, auf der Arbeit, im Bus, an der Supermarktkasse, in der Gemeinde, im Verein oder in der Familie.

Seit den frühen 80er-Jahren bin ich Tatort-Junkie. Nach Schimanski kam Manfred Krug als Paul Stoever – schon wieder so eine coole Socke. Maria Furtwängler spielt seit 2002 Kommissarin Charlotte Lindholm, eine dieser unabhängigen Frauen des 21. Jahrhunderts, die führen wollen. Mehr als ein Dutzend dieser starken Frauenfiguren folgten ihr seither nach.

Gesellschaft Der Tatort ist laut, hemmungslos, selbstverliebt, erfolgreich, arrogant, verzweifelt, mitfühlend, abhängig, voller Selbstzweifel, liebevoll und bisweilen so brutal wie das echte Leben. Er ist der Gesellschaft dicht auf den Fersen, spiegelt ihr, wie sie ist oder gerne wäre: vielfältig, zerrissen, bunt, ungerecht, sozial, immer regional geerdet, manchmal sogar weltoffen.

Klar gibt es schlechte Geschichten am Sonntag, konstruiert, überdreht, weit weg vom Alltag. Aber das ist selten. Manchmal geht es dann als Kunst durch, manchmal kann es weg. Nach 40 Jahren Tatort-Abhängigkeit bin ich zu einem distanzierten Urteil nicht mehr in der Lage.

Nie weiß ich, welcher Tatort nächsten Sonntag läuft. Immer ist es eine Überraschungsreise nach Dresden, München, Frankfurt, Köln oder Kiel. Welche Psychomacke ist heute im Angebot?

Klarinette Einmal nur habe ich gezuckt. 2015 war das, als ich Nina Rubin kennenlernte. Musste das sein? Eine jüdische Kommissarin? Geht’s jetzt wieder 90 Minuten um tanzende Bärte, nickelbebrillte Bücherwürmer und gerissene Kaufleute, die zur Klarinette Reibach machen? War aber nicht so. Familie Rubin erlebt den gleichen Schlamassel wie Schmidts nebenan, eine stinknormale deutsche Geschichte.

Wie viele interreligiöse Begegnungen brauchen wir eigentlich, bis ein Millionenpublikum eine Barmizwa miterlebt? Auch das ist Tatort.
Die meisten Tatort-Junkies schalten übrigens bei Thiel und Börne ein. Durchschnittlich über zwölf Millionen Deutsche lieben Jan Josef Liefers in der Rolle eines arroganten Rechtmediziners.

Ich dagegen bevorzuge den Dortmunder Peter Faber. Vor der Schauspielkunst Jörg Hartmanns möchte ich ein ums andere Mal niederknien. Ich bin ihm schon seit Weißensee verfallen.
Alles Gute zum Geburtstag, Tatort – und bis 120! Lorenz Beckhardt

Der Autor ist Redakteur des WDR. 2014 erschien sein Buch »Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie«.

Kalender

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 11. Dezember bis zum 17. Dezember

 10.12.2025

Antisemitismus

Konzert-Comeback: Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Xavier Naidoo kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorwürfe, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  09.12.2025

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 09.12.2025

Sehen!

»Golden Girls«

Die visionäre Serie rückte schon in den jugendwahnhaftigen 80er-Jahren ältere, selbstbestimmt männerlos lebende Frauen in den Fokus

von Katharina Cichosch  09.12.2025

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025