Begegnungen

Außenseiter unter seinesgleichen

Nur schlechte Autoren, so Marcel Reich-Ranicki, verkauften sich bei den Nach-Schoa-Deutschen als Juden. Foto: dpa

Begegnungen

Außenseiter unter seinesgleichen

Marcel Reich-Ranicki vor jüdischem Publikum – eine persönliche Erinnerung

von Hans Jakob Ginsburg  23.09.2013 14:53 Uhr

Aufgeregt unterbricht der alte Herr seinen Gesprächspartner: »Es gibt keinen einzigen jüdischen Schriftsteller in Deutschland und Österreich!« Und beobachtet lächelnd die Reaktion des Widersachers. Das ist Robert Schindel aus Wien, zweifellos Jude, zweifellos Schriftsteller, dazu noch Verfasser eines Romans, der von einem Wiener Juden handelt mit einer Lebensgeschichte, die nahezu autobiografisch anmutet.

Schindel hat gerade die These aufgestellt, allein im deutschen Sprachraum gebe es heutzutage jüdische Literatur. Warum? Weil Philip Roth amerikanische Literatur schreibe und nicht jüdische; Amos Oz israelische Literatur, nicht jüdische. Nur in Deutschland und Österreich haben Juden, sagt Schindel, eine so total andere Familiengeschichte und Lebenseinstellung als alle anderen Leute, dass sie eben jüdische Literatur schreiben.

provokant Die Diskussionsrunde hat vor mittlerweile zehn Jahren stattgefunden, Höhepunkt einer Tarbut-Kulturtagung im oberbayerischen Schlosshotel Elmau. Also jüdisches Publikum, darunter recht viele aus der schreibenden Zunft. Die fühlten sich von Schindels steiler These geschmeichelt. Mit mindestens einer, überaus prominenten Ausnahme: Marcel Reich-Ranicki, damals fast 83 Jahre alt, denn das war natürlich der alte Herr, der keinen einzigen jüdischen Schriftsteller in Deutschland kennen wollte, und das inmitten einer ganzen Ansammlung von Leuten, die sich selbst so definierten.

Die ärgerten sich noch mehr, als Reich-Ranicki ausführte, was er meinte: Entweder seien Autoren wirkliche Schriftsteller, dann sei es völlig egal, ob sie zufällig Juden seien; oder es seien schlechte Buchautoren, die sich bei den Deutschen wegen deren schlechtem Gewissen als Juden verkaufen wollten. Natürlich, so Reich-Ranicki, habe es auch im deutschen Sprachraum nach 1945 Schriftsteller gegeben, die Juden waren. Wolfgang Hildesheimer und drei, vier andere nannte er, die längst tot waren.

beleidigt Die lebenden Schriftsteller waren jetzt beleidigt, die Diskussion bekam einen hohen Unterhaltungswert. Reich-Ranicki erzählte, wie das so zu seiner Zeit als Literaturchef bei der Frankfurter Allgemeinen war, wenn junge Kollegen den großen Meister baten, er möge doch selbst dieses oder jenes neue Buch besprechen: Es sei nämlich wirklich nicht gut, und wenn ein Nichtjude die Kritik das schreibe, sähe das doch nach Antisemitismus aus ...

Gut und schön, meinte dazu Robert Schindel, aber er selbst sei doch nun einmal ein lebender jüdischer Schriftsteller. Worauf Reich-Ranicki ihn anbrüllte: »Nein, das sind Sie nicht, das haben Sie nicht nötig, Sie heißen doch nicht …«. Und es folgte der Name eines damals wie heute recht erfolgreichen jüdischen Romanciers und Zeitungskolumnisten, der in Deutschland von Nichtjuden ernst genommen und von Juden zumeist verachtet wird.

erhellend So war Marcel Reich-Ranicki unter Juden. Solche Auftritte waren leider so selten, dass die gepflegte Langeweile im geistigen Leben unserer Gemeinden davon nicht gestört werden konnte. Warum das so war, erzählte mir Reich-Ranicki viel, viel früher.

1978, bei einem jüdischen Jugendseminar, hatte er aus seinem herrlichen Buch über jüdische Literaten deutscher Sprache gelesen. Über Ruhestörer heißt das Buch und handelt selbstverständlich von Verstorbenen. Auf Nachfrage aus dem Publikum nach einem lebenden jüdischen Romancier, der zu seinem Unglück bei der Tagung kurz vor dem Auftritt des großen Kritikers aus einem halb historischen, halb pornografischen und hundertprozentig albernen Werk vorgelesen hatte, erklärte Reich-Ranicki, er beschäftige sich nur mit Literatur, über den gerade vorgetragenen Text habe er nichts zu sagen. Wohl aber beantwortete er zu später Stunde und im sehr kleinen Kreis die Frage, warum er kein Mitglied einer jüdischen Gemeinde sei: »Wissen Sie, ich habe im Warschauer Ghetto Rabbiner erlebt. Ich möchte mit solchen Menschen in meinem Leben nichts mehr zu tun haben.«

Das alles war lange vor der Veröffentlichung der Autobiografie Mein Leben, es war für uns damals junge Leute schockierend und erhellend zugleich. Und vor allem war es schade: Dem einen oder anderen Rabbiner oder auch Gemeindefunk tionär wird es das Leben erleichtert haben. Uns anderen hat Marcel Reich-Ranicki seligen Andenkens gefehlt. Und jetzt fehlt er noch mehr.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025