Debatte

Aufgerechnet wird am Schluss

»Der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen«: Hobbyhistoriker Grass Foto: imago

Bei gesellschaftlichen Anlässen geschieht es nicht selten, dass, gibt man sich als Jude zu erkennen, die Unterhaltung rasch Richtung Schoa driftet. (Das geht meist nicht vom jüdischen Gesprächspartner aus; es sind in der Regel die Deutschen, die das Thema aufdrängen.) Dabei kommt es nach den üblichen Betroffenheitsbekundungen oft zu einer Wendung der Konversation. So schlimm das alles gewiss gewesen sei, hört man dann, dürfe man darüber doch nicht andere Opfer übersehen – die Indianer im Wilden Westen, die Hungertoten in Afrika, unterdrückte Frauen und, nicht zu vergessen, die Deutschen selbst, die als Bombenopfer oder Vertriebene auch gelitten hätten.

gutes gewissen Die Menschen, die das sagen, sind keine Neonazis oder Reaktionäre. Oft wählen sie SPD oder Grüne, spenden für Amnesty International und engagieren sich gegen Fremdenfeindlichkeit. Mit der deutschen Geschichte haben sie sich intensiv auseinandergesetzt, wie sie glaubhaft versichern. Der Vorwurf, mit solchen Äußerungen relativierten sie den Holocaust, trifft sie um so härter. So hatten sie es doch nicht gemeint.

Auch Günter Grass wird sicherlich vehement von sich weisen, die deutsche Geschichte schön schreiben zu wollen. Hat er nicht schon zu Adernauers Zeiten gegen die Verdrängung der NS-Vergangenheit angekämpft und noch 1989 unter Verweis auf Auschwitz die Wiedervereinigung abgelehnt? Andererseits ... Aber lassen wir Grass selbst zu Wort kommen. In einem Interview mit Tom Segev in Ha’aretz am 26. August sagte der Literaturnobelpreisträger: »Der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. ... Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen.«

falsche zahlen Mal abgesehen davon, dass die Zahlen nicht stimmen – es sind in sowjetischer Gefangenschaft rund eine Million Wehrmachtsangehörige umgekommen, sagen die Historiker, und sie wurden auch nicht »liquidiert«: Was Günter Grass da von sich gibt, sind klassische Aufrechnungsmythen aus der neonazistischen und rechtsextremen Ecke. Was ist los mit dem Schriftsteller? Ist er auf einem Horst-Mahler-Trip?

Eher nicht. Grass bewegt sich mit seinen Sprüchen durchaus im linksliberalen Mainstream. Er ist nicht der einzige Deutsche aus diesem Spektrum, der sich in subtiler Schoa-Relativierung versucht. Der Historiker Jörg Friedrich etwa hat 2002 in seinem Bestseller Der Brand die alliierten Bombenabgriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg bewusst mit Holocaust-Vokabeln wie »Einsatzgruppen« und »Krematorien« beschrieben.

Hannah Arendt fiel bei Unterhaltungen mit wohlmeinenden Deutschen nach 1945 auf, dass, wenn die Rede auf die Naziverbrechen kam, ihre Gesprächspartner versuchten, das Thema schnell auf einer allgemeinmenschlich-moralischen Ebene zu verhandeln – wohl, wie die Philosophin analysierte, um der unangenehmen Frage nach der konkreten eigenen Verantwortung auszuweichen. Dieses Phänomen lebt bis heute fort, vom Stammtisch bis zum Feuilleton. Da wird von einer (nebenbei bemerkt, unangenehm anmaßenden) hypermoralischen Warte aus sämtliches Un recht dieser Welt in einen Topf geworfen und mit dem deutschen Völkermord an den europäischen Juden gleichgesetzt. Alles ist Holocaust, vom Bürgerkrieg in Jugoslawien über Tierversuche bis zu, natürlich, der israelischen Politik gegenüber den Palästinen sern. Und weil man vom hohen Ross der universellen Moral aus urteilt, beißt nichts das gute Gewissen. Würden Rechte dasselbe sagen, wäre das ein Skandal. Aber man ist ja fortschrittlich und somit per definitionem frei von Verdacht.

unterbewusst Tom Segev hat unterdessen Günter Grass in Schutz genommen: Der habe, da sei er sich »absolut sicher«, nicht den Holocaust in irgendeiner Weise herunterspielen wollen. Mag sein oder auch nicht. Das bleibt das Geheimnis von Grass’ Unterbewusstsein. In jedem Fall waren seine Äußerungen dumm und obszön. Singulär sind sie leider nicht.

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024