Kulturgeschichte

Auf Sand gebaut

Schon die Psalmen berichten von der Bewässerung der Wüste: Dattelplantage des Kibbuz Quetura im Negev Foto: Marco Limberg

Die frühesten Kulturlandschaften der Menschheit lagen in ariden und semiariden Zonen. Der »fruchtbare Halbmond«, das Gebiet zwischen Zweistromland und Nildelta, in dem die Hochkulturen der Sumerer und Babylonier, der Ägypter und Hebräer, später des griechischen Kleinasien entstanden, Kulturen, auf die sich die westliche Zivilisation gründet, dieser »fruchtbare Halbmond« war der Wüste abgerungenes, in täglichem Kampf gegen sie verteidigtes Land. An diesen Landschaften lässt sich die immerwährende Gefahr der Desertifikation ablesen. Zum Beispiel an den Steinterrassen, die man – Überreste jahrtausendealter Landschaftsgestaltung – überall in Israel sieht. Der deutsche Archäologe Joseph Anton Meßmer notierte 1844 in seinem Buch Das Heilige Land: »Die Berge bestehen meist aus Kalkstein, auf dem eine Lage fruchtbarer Erde ruht. Wird diese nicht durch Terrassen geschützt, so wird sie mit den Regengüssen hinabgeschwemmt und die Felsen steigen nackt und kahl empor (…). Fehlt es nun der Bevölkerung an Ausdauer und Thatkraft, die Terrassen zu errichten und bei häufiger Beschädigung herzustellen, so wird das sonst so fruchtbare Land unfruchtbar und öde.«

dauerkampf Eine alte Weisheit des Menschen besagt: Nichts, was wir haben, ist wirklich unser, folglich verlieren wir, was wir nicht schützen und bewahren. Dafür steht das Doppelgesicht der Wüste, ihr Pendeln zwischen vitalem Weidegrund und tödlichem Trockenland. Seit Jahrtausenden wird dieses Doppelgesicht in der Literatur beschrieben, oft in einer Weise, die konkrete Ansatzpunkte bietet. Psalm 107, Vers 35 verwendet für die Rückgewinnung von Trockenland zum Beispiel das Wort Stauwasserteich, hebräisch »agam maim«, aramäisch »agama«. Es bezeichnet das Anlegen von Terrassen und Teichen zum Stauen des Wassers nach den Winterregen, eine der traditionellen Methoden zum Fruchtbarmachen von Trockenland, die seit ewigen Zeiten bekannt sind und heute von der modernen Wüstenforschung wiederentdeckt werden.

Wüstenforschung hat die Aufgabe, sowohl das Versanden semi-arider Gebiete aufzuhalten als auch Wüsten neues Leben abzugewinnen. Die Möglichkeiten dazu sind in unseren Tagen verblüffend groß. Sie erlauben, beizeiten ergriffen, erfolgreiche Prävention gegen Katastrophen und menschliches Fiasko. Doch die modernen technischen Mittel können erst durch genaue Kenntnis des Historischen zu sinnvollem Einsatz kommen. Daher beinhaltet die Wüstenforschung neben naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Hydrologie, Geologie, Mikrobiologie, Botanik, Agrarwissenschaft und Solarphysik auch humanwissenschaftliche Gebiete, nämlich das Untersuchen früherer menschlicher Kulturleistungen durch Historiker, Literaturwissen schaftler, Archäologen, Papyrologen, Keilschriftexperten und Anthropologen.

rückbesinnung In den 50er-Jahren hat Michael Evenari, ein aus Deutschland stammender Israeli, mit seinen Sturzwasserfarmen in der Wüste Negev nachgewiesen, dass durch kluge Nutzung des während der Winterregen von den Bergen herabströmenden Wassers der Anbau von Obstbäumen und anderen Pflanzenkulturen ohne künstliche Bewässerung in Trockengebieten möglich ist. Seine wahre Bedeutung gewann Evenaris Experiment jedoch erst durch die Kooperation mit Geisteswissenschaftlern, die es in einen historischen Kontext stellten. Evenari war Bewässerungstechniken der Alten Welt auf der Spur, Techniken mit geringem Aufwand und hoher Effizienz, die auch arme Länder erfolgreich anwenden könnten. In der Nähe seiner Versuchsfarm an der alten Gewürzstraße zwischen Beer Sheva und Elat am Roten Meer fanden Archäologen die Überreste von Häusern, Ölpressen und Kornbehältern aus der Zeit der biblischen Könige David und Usija, später aus der Zeit der Nabatäer, die den Wahrheitsgehalt biblischer und anderer Überlieferungen belegen, wonach hier, mitten in der Wüste, schon um 1000 v.u.Z. Landwirtschaft betrieben und gesiedelt worden war. Nahe Evenaris Farm bei den Ruinen der alten Nabatäerstadt Avdat gründete Israels erster Premierminister Ben Gurion ein Institut für Wüstenforschung. Das Konzept des Instituts beruht auf der Annahme, dass die Wüste trotz scheinbarer Leere enorme Potenziale für den Menschen bereithält. Zunächst gibt es hier eine schier unerschöpfliche Energiequelle, die Sonne, weshalb sich das Institut seit Jahrzehnten mit der Erforschung von Solarenergie beschäftigt. Ferner mit Projekten, die gleichfalls von Licht und Wärme abhängen, wie Algen- oder Fischzucht. Das Anlegen von Teichen mitten in der Negev-Wüste wurde durch unterirdische, fossile Wasserreservoirs begünstigt, die mithilfe moderner Technologie genutzt werden können.

Lebensquell Auch in der scheinbar toten Sandwüste ist der Boden Lebensort zahlreicher Tiere und Mikroorganismen, deren Untersuchung Anhaltspunkte für die Wiederbelebung des Biotops bietet. Die größte Überraschung in Wüsten ist die Fülle des pflanzlichen Lebens, das sich auftut, sobald Wasser ins Spiel kommt, besser gesagt: sobald es der Mensch ins Spiel bringt. Denn der Mensch offenbart hier, im scheinbaren Nichts, besondere Fähigkeiten. Er wird zur verbindenden Kraft, zur einenden Intelligenz zwischen Größen, die zwar auch ohne ihn bestehen, aber für sich allein kein höheres Leben zu bewirken vermögen. Sonnenenergie, Keime des Lebens im Boden, Wasser an verborgenem Ort oder zu bemessener Zeit – alles das ist in der Wüste vorhanden, wird jedoch erst wirksam, wenn der Mensch eingreift und koordiniert, wenn er sich die Gegebenheiten der Schöpfung durch Liebe und Pflege zunutze macht. Diese immer hoffnungsvolle, zu ewigem Neubeginn ermunternde Situation ist im 1. Buch Moses 2,16 metaphorisch in zwei Tätigkeitswörter gefasst: »Und Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Erden, dass er ihn bearbeite und bewache.« Ist die Wüste – unseren ungläubigen Sinnen verborgen – der Garten Eden?

Auszug aus »Die Metapher Wüste«, erschienen in »Sinn und Form« Heft 3/2010
www.sinn-und-form.de
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