Begegnungen

Auf Entdeckungsreise

»Ich kenne ihn aus der Synagoge Pestalozzistraße ...«: Das Buch ist eine Entdeckungsreise Foto: Rolf Walter

Gerhard Haase-Hindenberg ist Schauspieler, Autor, Erzähler. Ein Mann, der Menschen zusammenbringt, sie vorstellt, der selbst erzählt und andere erzählen lässt. Ein Salonlöwe in einem Wirtshaus, das kein Salon ist: das »Wirtshaus Wuppke« in Berlin-Charlottenburg. Haase-Hindenberg erzählt mit großer Geste, gezielter Theatralik und einer betörenden Stimme; nuanciert, mit Lust am Sprechen, Formulieren und gelegentlich auch am Vortrag eines Gedichts.

Der Autor bringt Menschen zusammen, die sich nicht kennen und sich dann nicht mehr aus den Augen verlieren. Unterschiedliche Temperamente, unterschiedliche Lebensläufe, unterschiedliche Interessen – und ganz oft, fast nebenbei, sagt Haase-Hindenberg über einen anderen Gast: »Ich kenne ihn aus der Synagoge Pestalozzistraße oder aus dem jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße oder aus der Oranienburger Straße« und stellt Dichter und Denker, Alte und Junge, Männer und Frauen vor, die Juden sind.

WIRTSHAUS WUPPKE Sein neuestes Buch heißt »Ich bin noch nie einem Juden begegnet …«. Und wo immer der Autor die Idee dazu gehabt haben mag: Es muss im »Wuppke« entstanden sein. Denn dort sitzen alte Damen und ein chilenischer Lyriker nebeneinander. Dort erzählen sie einem (nichtjüdischen) Ökonomieprofessor von ihrem Leben. Von ihren Erfahrungen, ihren Einsichten, ihren Hoffnungen, von Lebenslust und Lebensverdruss. Sie schauen auf ihr Judentum: für manche ganz selbstverständlich ihr religiöser Alltag; für andere, säkular Eingestellte, eher eine selbstverständliche Gemeinschaft. Haase-Hindenberg hat ihnen zugehört. Hat mitgeredet. Und daraus hat er ein fulminantes Werk gemacht.

Hunderte von Beobachtungen (von denen einige in der Jüdischen Allgemeinen erschienen sind) hat der Autor zu einem Panoramabild verwebt. Überlebende der Schoa, Rückkehrer direkt nach dem Krieg, Jüdinnen, die im Kindergarten und zum Schluss im Seniorenheim arbeiten. Amerikanische Juden, die die Heimat ihrer deutschen Vorfahren entdecken. Russische Einwanderer, die sich in Deutschland auf sich und ihr neu entdecktes Judentum einlassen. Neugierige Israelis, die sich im Land der Täter umschauen und bleiben. Jüdische Frauen, die deutschen Männern unbehaglich in deren Heimat folgen und beginnen, auf dem Land und in der Provinz Gemeinden aufzubauen.

Mathematiker, Musiker, Manager, Komponistinnen, Yogalehrerinnen. Ein Panorama jüdischen Lebens, ein Panorama der Klage und der Lebenslust, in der nicht nur die Vergangenheit betrauert, sondern vielmehr das Leben gefeiert wird. Wobei das Mobbing gegen einen jüdischen Schüler – genauer gesagt, der Hass auf ihn und das bestürzende und verstörende Versagen deutscher Behörden, deutscher Lehrer und Schulverwaltungen – so präzise erzählt wird, dass man begreift, wie tief der Antisemitismus in der Gesellschaft wurzelt.

SOUND Haase-Hindenberg steht in der Tradition amüsanter und ernsthafter Erzähler. Sein Stil ist genau, er nimmt die Sprache, den Duktus auf. Immer wieder fühlt man sich an den österreichischen Schauspieler Fritz Muliar erinnert, an sein verschmitztes »Was ich vergessen habe zu erzählen …«. Gerhard Haase-Hindenberg hat seinen eigenen Sound. Er schreibt, wie er erzählt. Man liest und hört ihn vor dem inneren Ohr. Er zieht uns hinein – in die Lebensläufe und Lebensspuren von Juden in Deutschland. Und neben unzähligen Familiengeschichten, Begegnungen der Liebe und mit der Religion vermittelt Haase-Hindenberg unaufgeregt Wissen über das Judentum.

»Ich bin noch nie einem Juden begeg­net …« ist eine Entdeckungsreise. Eine aufregende Expedition in Deutschland, zu den Juden, die hier leben. Ein Lesemuss in erster Linie – vor allem für nichtjüdische Deutsche.

Gerhard Haase-Hindenberg: »›Ich bin noch nie einem Juden begegnet …‹. Lebens­geschichten aus Deutschland«. Edition Körber, Hamburg 2021, 384 S., 22 €

Am Donnerstag, den 14. Oktober liest der Autor um 19 Uhr in der Jüdischen Volkshochschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Moderation: Katharina Schmidt-Hirschfelder

JFBB

Die bessere Berlinale

Das 31. Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg sorgte für eine scharfe Kontroverse, aber vor allem für Dialog und gutes Kino

von Ayala Goldmann  13.05.2025

Kulturkolumne

Shkoyach!

Der Soldat im Speisewagen oder: Warum hören wir nicht öfter zu?

von Ayala Goldmann  13.05.2025

"Imanuels Interpreten" (9)

Der bessere Donald

Der Keyboarder, Sänger und Komponist Donald Fagen gibt der Pop-Musik etwas, das sie dringend braucht: eine große Portion Qualität

von Imanuel Marcus  13.05.2025

Leon Botstein

»Ich möchte wunderbare Musik verteidigen«

Der Chefdirigent des American Symphony Orchestra über vergessene Komponisten, Hannah Arendt und die Hochschulpolitik von Donald Trump

von Christine Schmitt  13.05.2025

ESC

Yuval Raphael: »Bin hier, um Hoffnung zu bringen«

Trotz Boykottaufrufen bleibt Israels Kandidatin für den Wettbewerb optimistisch: Mit ihrem Song »New Day Will Rise« will sie ein Zeichen für Hoffnung und Zusammenhalt setzen

 13.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 12.05.2025

Berlin

Ruth Ur wird neue Direktorin der Stiftung Exilmuseum in Berlin

In Berlin soll ein Museum über die Menschen entstehen, die vor den Nazis ins Exil flohen. Die Stiftung, die das Vorhaben vorantreibt, bekommt nun eine neue Direktorin

von Alexander Riedel  12.05.2025

Kulturpolitik

Kulturrat berät künftig zu Antisemitismus

Ziel sei es, Handlungssicherheit innerhalb des Kulturbereichs zu gewinnen

 12.05.2025

Tschechien

Holocaust-Museum in ehemaliger Schindler-Fabrik eröffnet

Der Unternehmer Oskar Schindler rettete viele Juden vor den Nazis. Seine Rüstungsfabrik verlegte er 1944 von Krakau nach Brnenec im heutigen Tschechien. Nun ist dort ein Museum eröffnet worden

 12.05.2025