»The Wanderers«

Auf der Suche nach Freiheit

Ines Nieri in der Rolle der Esther, Julian M. Boine als Schmuli, Julia Cheever (Elzemarieke de Vos) und Abe (Gideon Maoz) (v.l.) Foto: Oliver Fantitsch

Die amerikanische Dramatikerin Anna Ziegler (geboren 1979) wuchs in einem reformjüdischen Elternhaus in Brooklyn auf – nicht weit von Williamsburg und dessen chassidischer Gemeinschaft. Die eigene und die Realität der Nachbarn waren anscheinend ein idealer Nährboden für ihre spätere Arbeit. 2018 wurde ihr Stück The Wanderers im »The Old Globe«-Theater im kalifornischen San Diego uraufgeführt. Die deutsche Fassung – idiomatisch brillant übertragen von Stefan Kroner – feierte am 19. Januar am Hamburger Ernst Deutsch Theater Premiere.

Esther und Schmuli gehören der Sekte der Satmarer an, einer extremen Abspaltung der Chassidim, die nach der Schoa in die USA kamen und vor allem in New York und Umgebung siedeln. Die beiden jungen Satmarer wurden miteinander verheiratet und tasten sich nun langsam an ihr gemeinsames Leben und die eng gesteckten Grenzen ihrer individuellen kleinen Freiheiten heran.

Achterbahnfahrt Die lebensfrohe Esther (Ines Nieri) gibt die rasante emotionale Achterbahnfahrt der rebellischen freiheitssuchenden Frau virtuos wieder, liest gern, besonders verbotene Bücher über das eheliche Sexualleben. Ihr Neugatte Schmuli, dessen resignative Unterdrückung eigener Freiheitsgedanken und sein widerwilliges Festhalten am Kodex der Satmarer Julian M. Boine kongenial abbildet, hört hingegen gern Musik.

Doch aus den kleinen Fluchten werden allmählich existenzielle Probleme – ähnlich wie bei dem säkularen Paar Sophie (Jane Chirwa) und Abe (Gideon Maoz). Das Schriftstellerpärchen – er Starautor, sie mit sich selbst und dem mangelnden Erfolg hadernde Romancière – kämpft mit sich und dem Judentum. Nach und nach wird klar, dass Verletzungen und Narben durch deren Eltern entstanden sind. In stetem Wechsel der Dialoge stehen mal Esther und Schmuli, mal Sophie und Abe auf der kargen, weißen Bühne, die aus vier perspektivisch nach Größe angeordneten rechteckigen Toröffnungen besteht.

Als cleveren Kniff nutzt Regisseur Elias Perrig mehrere Türen, durch die das jeweils schweigende Paar durch gestenreiche Abgänge die Dialoge der agierenden Duos gleichermaßen kommentiert. Es dauert nicht allzu lange, bis sich erschließt, dass die beiden Paare auf versetzten Zeitebenen unterwegs sind – und dass deren Geschichten zusammenhängen.

BRÜCHE Was jetzt aber nach einem klassischen Eltern-Kinder-Konflikt klingt, ist eine feinsinnige Allegorie auf die unterschiedlichen, aber doch ähnlichen Brüche, die jüdische Biografien aufweisen. Sind die einen gefesselt in religiösen Zwängen, so sind die anderen in Karriere- und Alltagskonventionen gefangen.

Besonders deutlich wird das durch einen Twist von Anne Ziegler, dessen Ausgang hier nicht verraten werden soll. Aber dass Abe, dessen fahrig-selbstverliebte Art ganz wunderbar von Gideon Maoz gespielt wird, sich eine heiße E-Mail-Affäre mit Filmstar Julia Cheever (ganz Diva: Elzemarieke de Vos) leistet, seine Sophie, deren Selbstzweifel und gleichzeitige Selbstsicherheit Jane Chirva wunderbar leicht darstellt, das wird relativ schnell klar.

Der selbstzerfressende Konflikt der Säkularen gipfelt in der Frage von Sophie an Abe: »Warum willst du deine Kinder in einem Glauben erziehen, den du hasst?« »Weil Juden das so tun«, antwortet Abe. Das Problem der Strenggläubigen wiederum formuliert Esther in ihrer verzweifelten Klage: »Ich dachte, wenn ich aus Brooklyn weggehe, würden sich alle Schranken öffnen.«

Die Schranken, sie bleiben zu, die Flucht wird zur Tragödie, ein Happy End sieht gewiss anders aus. Aber ganz hoffnungslos ist diese Generationengeschichte vierer Jüdinnen und Juden und ihrer Wünsche, Bedürfnisse, Zwänge und Nöte gleichwohl nicht. Das ist der Zauber dieses Theaterabends, dessen Subtext gewiss jüdischen Besuchern implizit mehr einleuchten dürfte – dessen allgemeine Wahrheiten aber jedem Besucher, ganz gleich, wie viele Vorkenntnisse er mitbringt, das Judentum näherbringen. Ein Verdienst von Vorlage, Regie und Darstellerinnen sowie Darstellern gleichermaßen.

»The Wanderers«, Ernst Deutsch Theater Hamburg, bis 19. Februar
www.ernst-deutsch-theater.de

München

Filmemacher Michael Verhoeven ist tot

Mit kritischen Filmen über den Vietnamkrieg oder den Nationalsozialismus setzte der Filmemacher Akzente

 26.04.2024

Glosse

Ständig wird gestört

In Berlin stürmten erneut propalästinensische Kräfte in Anwesenheit der Kulturstaatsministerin die Bühne

von Michael Thaidigsmann  26.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  26.04.2024

Karl Kraus

»Als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe«

Zum 150. Geburtstag des großen Literaten und Satirikers

von Vladimir Vertlib  26.04.2024

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024