Migration

Auf der Suche nach Freiheit

Brighton Beach in Brooklyn: Hierhin zogen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche jüdische Immigranten. Foto: Daniel Rosenthal

Als ich Teenager in Moskau war, erzählte man sich viele rührselige Witze über die jüdische Emigration. Einer nahm die automatische telefonische Antwort bei der Visastelle aufs Korn. Die Pointe: Man wählte die Nummer und hörte »zhdite otkaza« (»Bitte warten, bis Ihr Antrag abgelehnt wird«) statt des konventionellen »zhdite otveta« (»Bitte warten, bis Ihr Anruf beantwortet wird«). Dieser Galgenhumor spiegelte die hoffnungslose Atmosphäre der frühen 80er-Jahre wider, als die Emigration fast zum Stillstand kam und ungefähr 1,7 Millionen Juden noch in der UdSSR übrig blieben.

Ich erinnere mich auch an einen futuristischen Witz, der im Moskau des Jahres 2020 spielt. Ein Junge und sein Vater gehen im Zentrum spazieren. Der Junge zieht seinen Vater am Ärmel und zeigt auf eine ältere Dame, die die Straße entlang eilt: »Schau, Papa, ich glaube, das ist eine Jüdin.« Die Dame hält an, schaut dem Jungen in die Augen und klagt: »Ich bin keine Jüdin, sondern einfach verrückt.«

putin Diese Art Witze sind ein letztes Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, an die sich jüngere russisch-jüdische Emigranten gerade noch so erinnern können. Aber nicht nur jüdische Witze der sowjetischen Ära verschwinden. Juden selbst sind immer weniger im öffentlichen Leben der Russischen Föderation präsent. Das gilt im besonderen Maße für Russlands Millennials. Die jüdische Gemeinde in dem Land schrumpft, trotz aller Fortschritte der postsowjetischen Jahre. Mit einer jüdischen Bevölkerung von etwa 180.000 steht Russland heute weltweit an sechster Stelle, weit hinter Israel und den Vereinigten Staaten, aber auch deutlich hinter Frankreich, Kanada und Großbritannien.

Jetzt, frei zu emigrieren, verlassen russische Juden das Land immer noch in bedeutender Zahl. Sie verlassen Putins Russland trotz einer Art scheinbaren staatlichen Protektionismus, trotz einer niedrigen Rate von öffentlichem Judenhass und trotz der Lebendigkeit jüdischer kommunaler und religiöser Institutionen. Israel ist das einzige Land, das Juden grundsätzlich immer aufnimmt, und allein in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres stieg die Emigration aus Russland nach Israel laut neuen statistischen Erhebungen um etwa neun Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die verbleibende jüdische Bevölkerung Russlands schwindet nicht nur, sondern altert auch. Außerhalb der ultraorthodoxen Gemeinde beträgt das Durchschnittsalter russischer Juden etwa 60 Jahre, und die Geburtenrate bei Juden ist die niedrigste von allen ethnischen Gruppen in der Russischen Föderation.

Juden werden, abgesehen von einigen nennenswerten Ausnahmen, zunehmend unsichtbar im Land, besonders in kleineren urbanen Zentren und auf dem Land. Die spätsowjetische und postsowjetische Abwanderung hat einen Effekt gehabt auf das öffentliche Bewusstsein von Juden – und auf die öffentliche Haltung gegenüber Juden. Eine Umfrage, durchgeführt vom Lewada-Zentrum in Moskau, deutet darauf hin, »dass die Mehrheit der russischen Bürger keine Juden persönlich kennt (in ihrer Familie oder unter ihrer Verwandtschaft, ihren guten Bekannten und Kollegen)«. Ist es also an der Zeit, einen Nachruf auf Russlands Juden zu schreiben?

zirkus Bei einem Besuch in Moskau habe ich neulich über diese Frage sinniert. Meine älteste Tochter Mira und ich besuchten eine Aufführung im Nikulin-Zirkus auf dem Zwetnoj-Boulevard. Eine Flut von Kindheitserinnerungen an den Zirkus trug mich zurück in eine andere Ära, die sowjetischen Spätsiebziger. Als ich elf war, Miras gegenwärtiges Alter, hatte ich eine Phase, in der ich Artist sein wollte. Mein Vater kannte eine jüdische Frau an der Fakultät der Moskauer Zirkus-Akademie, und einmal nahm sie mich mit hinter die Bühne, um die angehenden Akrobaten und Clowns zu treffen.

Beim Zirkus waren Mira und ich die Gäste meines guten Freundes Maxim Mussel, dem Enkel dreier Juden und eines ethnischen Russen. 1990 war mein Freund kurz davor, Alija zu machen, aber in letzter Minute änderte er seinen Entschluss. Er startete ein erfolgreiches Marketing-Unternehmen, heiratete eine russische Frau, bekam zwei Kinder, und jetzt saß Mira neben Maxims jugendlicher Tochter, einem wunderschönen russischen Mädchen, das immer mehr wie die Juden in seiner Familie aussieht. Als die Kapelle die Eröffnungsnummer spielte, las ich das Programm durch, auf der vergeblichen Suche nach jüdischen Namen unter den Zirkusleuten.

Und dann sah ich dies: »Den ganzen Abend begleitet Sie das Duo Club House – Bella and Alex Cher.« Das umfangreiche Programm war auf Russisch, doch die Namen der Clowns wurden auf Englisch gedruckt. Die Clowns waren ein Mann und eine Frau in ihren frühen 40ern, beide in Schwarz, Weiß und Rot gekleidet. Beide trugen die gleichen großen, runden Brillen. Bella, der weibliche Clown, hatte eine große Schürze mit vielen Taschen an, und sie erschien auf der Bühne mit einem Besen, wie eine Raumpflegerin, darauf aus, die ganze Slapstick-Sauerei zu säubern, die ihr Partner hinterließ.

Sehnsucht Die Witze hatten einen ausgesprochen melancholischen Ton, als holten sie ein anderes politisches Klima zurück, aus der Zeit, als Lachen immer sowohl etwas weniger als auch etwas mehr bedeutete, als es im heutigen Russland bedeutet. Die ganze Clownerie war charmant und sehr komisch, aber auch durchdrungen von Sehnsucht nach den glorreichen Tagen der sowjetischen Zirkuskunst.

Die Namen der Darsteller faszinierten mich und erinnerten mich an Sonny and Cher. Doch für den durchschnittlichen Russen im Publikum zeigten die englische Orthografie und der Klang der Namen an, dass sie ausländisch und nicht-russisch waren. Vermutlich auch jüdisch. Ein Blick auf die Rückseite des Programms enthüllte, dass der Familienname des Clown-Duos »Chervotkin« ist und dass in Russland »Alex« einmal Aleksandr hieß und »Bela« einmal Elena.

Später entdeckte ich, dass Aleksandr Chervotkin (alias »Alex Cher«) einer prominenten Familie russischer Schauspieler entstammt. In den späten 90er-Jahren war das Paar in die Vereinigten Staaten ausgewandert, um mit amerikanischen Zirkussen aufzutreten, und dort hatten sie einen neuen Bühnennamen angenommen. 15 Jahre später folgten sie der Einladung, in Russland aufzutreten, und nun taten sie das als Bella and Alex Cher.

antisemitismus In den alten sowjetischen Tagen nahmen etliche Juden russische Künstlernamen an, um nicht aufzufallen und so den Antisemitismus zu umgehen. Doch im heutigen Russland sind jüdische Namen plötzlich modern geworden, und Expat-Clowns mit jüdisch klingenden Bühnennamen amüsieren jetzt russische Zuschauer. Haben Elena und Aleksandr Chervotkin jüdische Vorfahren? Vermutlich nicht. Aber das ist nicht wirklich der Punkt. In Russland, einem Land, das ständig seine echten Juden verliert, spielen Bella and Alex Cher die Rolle von imaginären jüdischen Clowns. Lacht also Russland seine Juden aus? Lacht es mit seinen Juden? Lacht es ohne Juden?

Ich wollte das Clown-Duo, das die russischen Zuschauer mit bittersüßem jüdischen Humor amüsierte, interviewen. Ich habe ihnen mehrere E-Mails und Facebook-Botschaften mit Fragen geschickt. Das ist einige Monate her, und ich warte noch auf Antwort.

Der Autor wurde 1967 in Moskau geboren, lebt in Boston und ist Dozent für Jüdische Studien. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Leaving Russia: A Jewish Story«.

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025