»Und der Wind weht durch unsere Seelen«

Auf der Suche nach der Zweisamkeit

Es sind Fin-de-Siècle-Szenen wie aus einem Roman von Proust: In einem »blumengeschwängerten Atelier« in Paris treffen zwei gut aussehende, knapp 20-Jährige zum ersten Mal aufeinander, bewundern sich gegenseitig, sind angetan von nahezu allem, von Augen und Timbre, von ihrer geradezu makellosen Physis in Verbund mit ausgeprägter Geistigkeit.

Ein wenig später, im sonnigen August 1894, gibt es in einem an der Marne gelegenen Schloss mit dem sprechenden Namen Réveillon ein Wiedersehen, wobei die Schlossherrin sofort erspürt, dass hier eine ebenso scheue wie leidenschaftliche Liebe erblüht, sodass sie – tolerant-kunstsinniger Geistesadel verpflichtet – die beiden in einem abgeschiedenen Flügel des Schlosses unterbringt, wo nächtens von Zimmer zu Zimmer gewandert werden kann, ohne die anderen Pariser Sommergäste zu irritieren.

Das Vorbild der Odette in der »Suche nach der verlorenen Zeit« war keineswegs feminin.

Gleicht jene reale Madame Lemaire nicht der weltberühmt gewordenen Madame Verdurin, die bei Pariser Abendgesellschaften und in luxuriösen Idyllen auf dem Lande ebenso zielstrebig wie dezent die aufkeimende Liebe zwischen Swann und Odette gefördert hatte? Wenn jedoch in Marcel Prousts ab 1913 in Einzelbänden erscheinendem Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit jener Swann durchaus autobiografische Züge trägt (dabei freilich weder homosexuell noch jüdisch sein darf), so hat Odette ein ganz anderes Vorbild, das keineswegs feminin war. Als blutjunger Mann hatte sich Proust damals in den 19-jährigen Reynaldo Hahn verliebt, dessen Vater ein deutscher Jude aus Hamburg ist, der einst nach Venezuela ausgewandert war und dort eine katholische Einheimische mit baskischer Abstammung geheiratet hatte, Reynaldos Mutter.

EPISTELN Die italienische Journalistin Lorenza Foschini hat diese berührende Geschichte in einem Buch nacherzählt, dessen etwas blumiger Titel Und der Wind weht durch unsere Seelen überaus angemessen ist: Ganz im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts bedachten sich nämlich beide mit Briefen und Episteln voller Schwüre und Deklarationen, aber auch subtilster Anspielungen und gedrechselter Nuancen, die beim heutigen Wiederlesen mitunter durchaus ein enerviertes »Mon Dieu!« provozieren könnten. Denn auch nachdem Marcel und Reynaldo, dank ihrer Familien finanziell unabhängig, ohne die Mimikry-Zwänge der Gesellschaftskonventionen einen geradezu abenteuerlichen Urlaub à deux an der damals noch ursprünglichen Atlantikküste verbracht hatten – in den nach der Rückkehr nach Paris manchmal sogar im Stundentakt hin- und hergehenden Briefen siezt man einander weiterhin.

Furcht vor einem möglichen Skandal aber war das gewiss nicht, sowieso wusste tout Paris, freilich ohne es explizit auszusprechen, vom besonderen Charakter dieser Freundschaft. Eher zeugt das Elaborierte der Korrespondenz von einem geradezu irritierend früh entwickelten Bewusstsein der beiden, dass selbst ihre Liebe noch zu transformieren und ästhetisch zu formen war – in Musik und Literatur.

Wobei Reynaldo anfangs sogar den besseren Start hatte: Bereits als Kind hatte er mit seiner zart-kraftvollen Stimme Arien von Mozart und Offenbach vorgetragen, trat auf in mondänen Salons (und einmal sogar vor der spanischen Königin), studierte späterhin bei den berühmten Komponisten Jules Massenet, Charles Gounod und Camille Saint-Saëns.

Seine eigenen Kompositionen werden dann bereits gefeiert, als der schüchtern-wagemutige Marcel Proust noch unstet durch jene Salons streift, stets auf der Suche nach den verrätselten Geschehnissen und sublimen Seelen-Sensationen, deren minutiös-mikroskopische Nachzeichnung viele Jahre später zum Meisterwerk seiner Recherche wird.

OLYMP Nach zwei Jahren leidenschaftlicher Beziehung wird Reynaldo gleichsam zum Opfer dieser hochgespannten, womöglich ja auch überspannten Beobachtungs-Sensibilität. Proust presst ihm sogar einen Schwur ab, ihm alles in seiner Abwesenheit Gedachte und Getane mitzuteilen, doch Reynaldo denkt gar nicht daran, Seelenmaterial für die Beschreibung all jener Odettes und Albertines zu liefern, an deren Treue oder Untreue Prousts hypersensible Romangestalt fürderhin leiden wird. Ihre Liebe zerbricht, doch wird bald danach eine wundersame Freundschaft daraus, eine robust-zärtliche Komplizenschaft, die bis zu Prousts frühem Tod im November 1922 andauert; auch in seinen letzten Stunden ist Reynaldo Hahn bei ihm.

Marcel ist nun im Olymp der Weltliteratur angekommen, während Reynaldo zwar als gefeierter Operettenkomponist reüssiert, jedoch zeitlebens darunter leiden wird, kein »ernsthafteres« Werk verfasst zu haben. Beim deutschen Einmarsch 1940 muss er, inzwischen ein betagter Herr, aufgrund seiner jüdischen Herkunft in die unbesetzte Zone nach Südfrankreich fliehen, überlebt dort und kehrt nach Kriegsende in die Hauptstadt zurück, wo er bis zu seinem Tod 1947 als Direktor der Pariser Oper amtieren wird.

AMBIVALENZEN Und die einst von Marcel und Reynaldo frequentierten Gesellschaftszirkel? Offenbar war es für diese kein Problem, gemeinsam mit zwei jungen homosexuellen Juden zu soupieren und zu dinieren, auszufahren und Konzerte zu besuchen. Und das, obwohl beide in der berühmt-berüchtigten »Dreyfus-Affäre« für den zu Unrecht und aufgrund antisemitischer Ressentiments Angeklagten Partei ergriffen hatten.

Prousts Freund, der Schriftsteller Léon Daudet (gleichzeitig der Bruder von Marcels Liebelei Lucien, der kurzzeitig Reynaldos Stelle eingenommen hatte), war freilich einer jener »Anti-Dreyfusards«, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für einen autochthonen französischen Faschismus standen und aus ihrem Hass auf Juden kein Hehl machten. Derselbe Léon Daudet aber wird dann 1919 die treibende Kraft sein, damit Marcel Proust den renommierten Prix Goncourt erhält, damals wie heute das Eintrittsbillett in die französische Hochliteratur.

Schade, dass sich Lorenza Foschini für solche Ambivalenzen weniger interessiert als für das lebenslang währende Auf und Ab zwischen Marcel und Reynaldo. Vielleicht ist sie aber auch darin ihren zwei Helden besonders nahe, die schon aus Selbstschutz bestimmte Aspekte der französischen Gesellschaft stets mit ostentativem Schweigen übergangen hatten.

Lorenza Foschini: »Und der Wind weht durch unsere Seelen. Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft«. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Nagel & Kimche, München 2021, 237 S., 22 €

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