Radio-Feature

Auf der Spur der verlorenen Denker

Ein heißer Vormittag im Sommer 1937. In dem stickigen Seminarraum auf dem Campus Bockenheim warten die Studenten bereits seit Stunden auf ihren Professor, den Astrophysiker Karl Wilhelm Meissner. Gegen Mittag erscheint ein völlig verstörter Oberassistent und ruft: »Der Chef ist weg!« Kurz zuvor hatte Meissner einen Brief des neuen NS-Rektors der Universität erhalten, der ihn in den Ruhestand zwang. Ab dem 31. August wird ihm Hausverbot erteilt. Eigenhändig schraubt Meissner nur wenige Minuten später sein Namensschild von der Zimmertür. Er ist kein Jude. Weil er sich jedoch weigert, seine jüdische Ehefrau zu verlassen, trifft auch ihn der Hass der Nazis.

Diana Maudj bewegt diese Geschichte sehr. »Er war so beliebt bei seinen Studenten, so professionell und wurde einfach entlassen. Und dennoch hat er bis zur letzten Sekunde, bis kurz vor Mitternacht zum 31. August, noch in seinem Labor gearbeitet«, so die 23-Jährige. Maudj ist Lehramtsstudentin an der Frankfurter Goethe-Universität. Gemeinsam mit neun Kommilitonen hat sie zum Jubiläumsjahr der Hochschule ein Semester lang den meist jüdischen Wissenschaftlern nachgespürt, die nach 1933 die Universität verlassen mussten. Aus der Projektarbeit »Verlorene Denker« ist ein Radio-Feature geworden, das der Hessische Rundfunk am Sonntag sendet.

Radiostimmen Die Aufnahmen im Studio haben begonnen. In dem schalldichten Raum stehen die meisten der zehn Studenten erstmals vor einem Mikrofon. Noch ist es ungewohnt, die eigene Stimme zu hören, obwohl sie alle zuvor ein Sprechtraining erhalten haben. »Sie haben tolle Radiostimmen«, lobt Christiane Kreiner, die als Redakteurin bei hr2-kultur das Projekt betreut.

Aus dem Regieraum kommen Anweisungen: Nicht zu laut sprechen, nicht zu betont. Mit ruhiger Stimme sollen sie die Zahl der Deportierten aufzählen, die am 12. November 1938 im KZ Buchenwald eingetroffen sind. Aus Darmstadt 96, aus Frankfurt 581, aus Büdingen 48, eine schier endlose Liste. Es soll monoton klingen, mechanisch, die gnadenlose Bürokratie der Vernichtung wiedergeben.

Ihre Recherchen haben die Studenten nach Buchenwald geführt. Immer wieder sind sie auf Todeslisten der Vernichtungslager gestoßen, haben in den Archiven der Stadt, der Universität, des Fritz Bauer Instituts, des Bundesarchivs nach Namen gesucht, nach Spuren zerbrochener Karrieren, Leben und Träume. Manchmal vergeblich, weil von den Menschen nichts Persönliches blieb, außer einem Todesdatum. Manchmal war selbst das nicht gesichert.

Unbekannt Am Anfang stand die Frage: Wen wählen wir aus? »Wir hatten rund 240 Namen«, sagt die Germanistikstudentin Lucia Gerharz, die mit dem Lehrbeauftragten Torben Giese das Projekt betreut. Bewusst wählten sie nicht Berühmtheiten wie Horkheimer oder Adorno aus. »Wir haben uns für die eher unbekannten Biografien entschieden«, so Gerharz. Die Vergessenen, Verlorenen, Ermordeten, deren Schicksale teils schwer aufzuspüren waren – wie das des Astrophysikers Karl Wilhelm Meissner, des Mathematikers Paul Epstein, des Malers Hermann Lismann, des Chemikers Edmund Speyer und des Psychiaters Raphael Weichbrodt.

Diana Maudj entschied sich für Meissner und seine tragische Lebens- und auch Liebesgeschichte. Der Professor emigrierte 1938 in die USA, lehrte später an der Purdue-Universität Lafayette in Indiana. Seine Frau, für die er alles aufgegeben hatte, starb nur ein halbes Jahr später im Exil. Er selbst wollte 1959 erstmals in die Heimat zurückkehren. Auf der Überfahrt beendete eine Thrombose überraschend sein Leben. »Das fand ich sehr traurig und hat mich sehr berührt«, erzählt die Studentin.

Schmerzmittel Wie aus zuvor fernen Geschichtsfakten persönliche Verbundenheit wird, haben auch die anderen Studenten erlebt. Volker Kehl und Juliette Heinikel sind der Vita des Chemikers Edmund Speyer nachgegangen. Nach 1933 verliert sich seine Spur fast ganz. Speyer hatte das Medikament Eukodal entwickelt, ein schmerzstillendes Opiat, doppelt so stark wie Morphium, das vom Darmstädter Pharmaunternehmen Merck vertrieben wurde. Sie finden Einträge und Zahlungsanweisungen an ihn im Merck-Firmenarchiv, erfahren, dass er mit seinem Bruder trotz aller Warnungen in Frankfurt blieb und 1942 im Ghetto Lodz an Erschöpfung starb. Ironie des Schicksals ist, findet Juliette Heinikel, dass das vom ihm entwickelte Medikament zum festen Bestandteil der Sanitätsausrüstung der Wehrmacht und der Waffen-SS wurde.

Der Maler Hermann Lismann wurde im KZ ermordet, ebenso der Psychiater Raphael Weichbrodt. Paul Epstein, nach dem die Epsteinsche Zetafunktion in der Mathematik benannt ist, nahm sich 1939 das Leben. Er war bei der Gestapo vorgeladen worden. »Ehe ich diesen Menschen in die Hände falle, tue ich diesen letzten Schritt«, so eine Notiz an seine Hinterbliebenen, die die Studenten fanden. Nur Tage zuvor hatte er auch seine geliebte Katze einschläfern lassen.

Der Aufnahmeleiter und Historiker Hans Sarkowicz ist von der Rechercheleistung beeindruckt. »Die Studenten haben diese Menschen, die kaum noch jemand kennt, zurückgeholt.« Henrike Blaum, die sich mit Raphael Weichbrodt befasst hat, ist sicher: »Seine Biografie werde ich nicht mehr vergessen.« Wenn sie einmal als Lehrerin arbeitet, will sie ihren Schülern Geschichte auf genau diese Art vermitteln.

»Verlorene Denker«, Feature. Sonntag, 19. Oktober, 18.05, HR2 Kultur. Ein Podcast wird auf der Website der Universität stehen.

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025

Israel

»The Sea« erhält wichtigsten israelischen Filmpreis

In Reaktion auf die Prämierung des Spielfilms über einen palästinensischen Jungen strich das Kulturministerium das Budget für künftige »Ophir«-Verleihungen

von Ayala Goldmann  17.09.2025

Berlin

»Stärker als die Angst ist das menschliche Herz«

Die Claims Conference präsentiert in einem Bildband 36 Männer und Frauen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Auszeichnung

Theodor-Wolff-Preis an Journalisten vergeben

Der Theodor-Wolff-Preis erinnert an den langjährigen Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff (1868-1943)

 17.09.2025

Los Angeles

Barbra Streisand über Dreh mit Robert Redford: »Pure Freude«

Mit dem Klassiker »The Way We Were« (»So wie wir waren«) brachen die beiden Stars in den 70er-Jahren Millionen Herzen. Nach dem Tod von Redford blickt Hollywood-Ikone Streisand zurück auf den Dreh

von Lukas Dubro  17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Für Toleranz, Demokratie: Margot Friedländer Preis vergeben

Es ist die erste Preisverleihung nach dem Tod der Stifterin. Ausgezeichnet wird der Einsatz für die Ideale der im Frühjahr gestorbenen Holocaust-Überlebenden

 17.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025