Herr Berliner, wie kommt ein promovierter Mathematiker, der zwei Jahrzehnte als Aktuar für die Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft gearbeitet hat, zur Musik?
Auf den ersten Blick sind die Mathematik und die Musik zwei Bereiche, zwischen denen keinerlei Verbindung besteht. Wenn man sich die Sache aber näher anschaut, lassen sich sehr wohl viele gemeinsame Eigenschaften zwischen der »Königin der Wissenschaften« und der »Königin der schönen Künste« entdecken.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Beiden ist eine Voraussetzung gemein: Sowohl in der Mathematik als auch in der Musik braucht man viel Inspiration. Es geht dabei um die kurzen und eleganten Wege, die zur korrekten Lösung einer Aufgabe führen oder eben zu einer Komposition. Auch hat der griechische Mathematiker Pythagoras schon vor 2500 Jahren auf die Verbindungen zwischen Tönen und Zahlen hingewiesen.
Sie sagten einmal in einem Interview, dass Sie Ihr künstlerisches Talent von Ihrer Mutter geerbt haben und das mathematische vom Vater. Wie ist das zu verstehen?
Vom Tag meiner Geburt an habe ich Musik und Mathematik in meinem Elternhaus erleben dürfen. Die Liebe zur Musik und den musikalischen Unterricht bekam ich von meiner Mutter Charlotte mit, die als Pianistin, Sängerin und Tänzerin oft in Wien aufgetreten ist. Die Liebe zur Mathematik bekam ich von meinem Vater, der an der Jenaer Universität studiert hatte. Ich selbst hatte das große Glück, bei Ödön Pártos, dem großartigen ungarisch-israelischen Komponisten und damaligen Direktor der Akademie für Musik in Tel Aviv, Geige zu lernen. Im Alter von zwölf Jahren kam ich mit meinen Eltern dann nach Berlin, wo ich mich weiterhin sehr viel mit Musik beschäftigen sollte. Ebenso in Zürich, wo ich mit 26 meine Doktorarbeit im Fach Mathematik verfasste. Und später, als ich als Aktuar tätig war, entwickelte ich in meinem Kopf auf dem Weg zur Arbeit entlang des Zürichsees bereits Melodien, die mich nicht mehr losließen. Sobald ich nach Hause kam, nahm ich sofort meine Geige und das Notenheft, versuchte, die Noten nachzuspielen und schriftlich zu fixieren.
Waren das Melodien, die in Ihrem späteren Werk auftauchten?
Aus einer dieser Melodien wurde in der Tat das führende Thema im symphonischen Poem »Genesis«, das mit großem Erfolg bereits auf der ganzen Welt aufgeführt wurde.
Mit »Genesis«, »Abraham« und »Jakobs Traum« greifen Sie immer wieder biblische Themen in Ihren Kompositionen auf. Warum?
Ich bin ein tiefreligiöser Mensch und glaube an Gott. Die Bibel ist für mich heilig und wegweisend. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass die existenziellen Fragen, die sie thematisiert, heute genauso aktuell sind wie vor Tausenden von Jahren. Denn das Gute und das Böse sind weiterhin im Menschen unverändert vorhanden. Nur haben sich die Möglichkeiten aufgrund der zur Verfügung stehenden Technologien potenziert. Und leider ist die menschliche Geschichte voller Gewalt und damit blutgetränkt. Mein erstes symphonisches Poem »Genesis« greift genau dieses Thema mehrfach auf – beispielsweise die Folgen der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden, des Mordes von Kain an Abel oder die Sintflut. Es schließt aber positiv mit der Beschreibung des Bundes zwischen Gott und der Menschheit.
Wieso positiv?
Die Einstellung von Noah und sein Weg, mit dem er die Menschheit vor dem Untergang rettet, stehen mir persönlich sehr nahe. Sie entsprechen meiner Haltung zum Leben und meinen Gefühlen. Es ist mir äußerst wichtig, Themen aus der Bibel sowohl musikalisch zu beschreiben als auch die entsprechenden Texte durch einen guten Erzähler eindrucksvoll vortragen zu lassen. Auf diese Weise werden philosophische Probleme und Aussagen den Zuhörern sehr nahegebracht. Ein weiterer Vorteil der biblischen Texte ist, dass es sie übersetzt in 636 Sprachen gibt. Vorleser können sie also weltweit in der jeweiligen Landessprache vor ihrem Publikum rezitieren.
Wie werden Ihre Stücke in Israel rezipiert?
Alles begann vor zehn Jahren, als in Israel »Genesis« in einer klassischen Version durch das Israelische Kammerorchester erstmals gespielt wurde. Aufgrund der großen Resonanz gab es ein Jahr später eine Symphorock-Version. Danach folgte die für mich unvergessliche Welturaufführung von »Kain und Abel« und des Oratoriums »Abraham« durch das Jerusalem Symphony Orchestra. Damit war der Grundstein gelegt für weitere musikalische Aktivitäten und meine internationale Karriere.
Vor einigen Jahren haben Sie auch an dem ukrainisch-israelischen Film »Ha-Tikwa« mitgewirkt. Wie ist es dazu gekommen?
Die Idee kam nach der wunderbaren Aufführung von »Kain und Abel« und dem Oratorium »Abraham« in Kiew durch das Nationale Philharmonie-Orchester sowie den Nationalchor »Dumka« anlässlich des Gedenkens an das Massaker von Babi Jar vor 75. Jahren. Vorleser war der berühmte israelische Schauspieler Alex Ansky. All das hat einen tiefen Eindruck hinterlassen, auch auf mich persönlich, weil Teile meiner Familie in der Ukraine in der Schoa ermordet wurden. Mein Freund und Produzent Nachum Slutzker und ich waren zu Tränen gerührt. In Kiew trafen wir dann den lokalen Produzenten Sergei Krutzenko. Daraus entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit und enge Freundschaft.
Was haben Sie gemeinsam entwickelt?
Zuerst gab es die Idee, vor allem das Konzert zu filmen. Doch nach Gesprächen und einem Besuch in Babi Jar wollten wir mehr. Am Ende wird ein Film stehen, an dem mehr als 100 Personen mitwirkten, zum Teil in historischen Fahrzeugen und Uniformen. Zu sehen sind nun vielfältige jüdische und nichtjüdische Inhalte, beispielsweise das frühere jüdische Viertel von Kiew und Bilder, die in Babi Jar aufgenommen wurden. All das soll pünktlich zum 80. Jahrestag des Massakers 2021 gezeigt werden.
Gibt es ein musikalisches Projekt, das Sie unbedingt noch verwirklichen wollen?
Auf jeden Fall. Derzeit arbeite ich intensiv an meinem 4. symphonischen Poem zu Isaaks Opferung. Es liegt mir daran, auch diese Symphonie zu beenden.
Mit dem Wissenschaftler und Komponisten sprach Ralf Balke.