Biografie

Arzt, Dichter, Exilant

Ein Buch beschreibt das Leben von Martin Gumpert, der 1929 in Berlin-Wedding eine »Sprechstunde für soziale Kosmetik« durchsetzte

von Gerhard Haase-Hindenberg  08.02.2023 15:06 Uhr

Ein Buch beschreibt das Leben von Martin Gumpert, der 1929 in Berlin-Wedding eine »Sprechstunde für soziale Kosmetik« durchsetzte

von Gerhard Haase-Hindenberg  08.02.2023 15:06 Uhr

Der Titel des Buches lautet Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten. Das wäre eigentlich ein klassischer Untertitel. Der Haupttitel dieser Biografie hingegen könnte »Martin Gumpert« heißen. Zugegeben ist dieser Name heute weitgehend unbekannt, aber der Hinweis auf ein »außergewöhnliches Leben in zwei Welten« ließe den suchenden Kunden schon mal zu dem Buch greifen. Aber auch so ist der Biografie dieses außergewöhnlichen Menschen Erfolg zu wünschen.

Da sind zunächst die zwei Welten von Medizin und Literatur, in denen sich Gumpert souverän bewegt. Gänzlich »außergewöhnlich« war das damals nicht, lebten in diesen auch Gottfried Benn und Alfred Döblin und in den USA – dem späteren Exilland Gumperts – der Kinderarzt William Carlos Williams. Außergewöhnlich ist das Leben des Martin Gumpert aus ganz anderen Gründen, wie seine Biografin durch bienenfleißige Recherchen (allein das Quellenverzeichnis umfasst neun Seiten) herausgefunden hat.

krankenkassen So erfährt man etwa, dass er nach langem Kampf im August 1929 beim Gesundheitsamt im Berliner Arbeiterbezirk Wedding für die vielen im Weltkrieg schwer verunstalteten Soldaten eine »Sprechstunde für soziale Kosmetik« durchsetzte. Und er erreichte gegenüber den Krankenkassen, dass entsprechende chirurgische Eingriffe bezuschusst wurden. Wenn heute Unfallopfer oder Opfer von Gewalt von ihrer Kasse eine entsprechende Operation bezahlt bekommen, so verdanken sie dies dem sozialen Engagement des Arztes Martin Gumpert vor fast 100 Jahren.

Außergewöhnlich ist auch sein dichterisches Talent, das er bereits als Jugendlicher mit expressionistischer Lyrik unter Beweis stellte. Unter dem poetischen Titel Heimkehr des Herzens legte er 23-jährig einen viel beachteten Gedichtband vor. Und er schrieb einen gleichermaßen medizinhistorischen wie biografischen Roman über Samuel Hahnemann. Der war Arzt und begründete an der Schwelle zum 19. Jahrhundert die Homöopathie. Martin Gumpert wirbt ebenso wie Magnus Hirschfeld für deren Anerkennung, und beide nehmen ihre Auffassung 1933 mit ins Exil.

Die zwei Welten des Martin Gumpert sind die seiner Geburtsstadt Berlin und des Exilortes New York.

Die zwei Welten des Martin Gumpert sind denn auch die seiner Geburtsstadt Berlin und des Exilortes New York. Hier durchläuft das Buch eine Metamorphose von einer medizinhistorisch-sozialpolitischen Biografie zur berührenden Erzählung über einen unbekannten jüdischen Exilanten, der es schwer hat, sich im Melting Pot New York durchzuschlagen.

crash-kurs Die Leser erfahren, dass ein bestandener Crash-Kurs in Englisch und eine eigene Arztpraxis in der Park Avenue noch keine Erfolgsgeschichte darstellte. Heute wäre dies so; damals arbeitete Gumpert in einem der oberen Stockwerke eines Hochhauses, Tür an Tür mit anderen Ärzten, für sein wirtschaftliches Überleben. Der Kampf ums Einkommen machte ihn schließlich im Nebenberuf zu einem anerkannten Journalisten namhafter Magazine.

Und dann beschreibt seine Biografin ausführlich Gumperts Leben im Bedford-Hotel, in dem er auf andere Emigranten wie Bert Brecht und Billy Wilder traf und vor allem auf Thomas Mann, mit dem ihn schließlich eine lebenslange Freundschaft verband. Mit dessen polyglotter, bisexueller Tochter Erika ging Martin Gumpert eine leidenschaftliche erotische Beziehung ein – und fast daran kaputt.

All das wird in dieser Biografie ausführlich aus der Position einer externen Beobachterin erzählt. Ulrike Keim, die selbst jahrzehntelang als Internistin praktizierte und sich durch ein Studium der Germanistik auch der Literaturwissenschaft verbunden fühlt, tut dies in einem sachlichen, teils reportagehaften Stil, der vollkommen unspektakulär erscheint. Das »außergewöhnliche« Leben des Martin Gumpert in allerlei Welten lohnt auf jeden Fall die Lektüre.

Ulrike Keim: »Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten. Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert«. Hentrich & Hent­rich, Berlin/Leipzig 2022, 485 S., 29,90 €

Geschichte

Derrick, der Kommissar von der Waffen-SS

Horst Tappert wurde in der Bundesrepublik als TV-Inspektor Derrick gefeiert - bis ein erhebliches Problem in seinem Lebenslauf bekannt wird

von Thomas Gehringer  14.10.2024

Theater

Auch auf der anderen Seite gibt es Mütter

»Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten«: Maya Arad Yasurs Stück wird in Bonn inszeniert

von Eva M. Grünewald  14.10.2024

Meinung

Das Ende der Restitution

Die geplante Reform macht Deutschland zum Schlusslicht bei der Rückgabe von NS-Raubkunst, befürchtet unser Gastautor

von Markus H. Stötzel  14.10.2024

Kino

Erschütterndes Drama um die NS-Widerstandskämpferin Hilde Coppi

»In Liebe, Eure Hilde«: Emotional, doch ohne Pathos

von Alexandra Wach  14.10.2024

Fernsehen

Tränensäcke und Bling-Bling

Vor 26 Jahren endete der legendäre TV-Krimi »Derrick«

von Christof Bock  13.10.2024

Standpunkt

Das Medienversagen

Täter-Opfer-Umkehr und Ja-aber: Viele Redaktionen in Deutschland verzerren Israels Kampf um seine Existenz - mit fatalen Folgen

von Maria Ossowski  13.10.2024

Sehen!

»Ende einer Verhandlung«

Das Schauspiel des Staatstheaters Meiningen zeigt Anna Gmeyners Geschworenendrama

von Joachim Lange  13.10.2024

Aufgegabelt

Gemüsesuppe mit Kichererbsen

Rezepte und Leckeres

 12.10.2024

Analyse

Die neuen alten Grenzen der Solidarität

Erstaunt über den aktuellen Judenhass? Lesen Sie doch mal Jean Amérys 60 Jahre alte Texte

von Leeor Engländer  11.10.2024