Hamburg

Archiv der Jahrhunderte

»400 Jahre alte reichhaltige Geistesgeschichte«: Institutsleiterin Miriam Rürup bei ihrer Festrede Foto: Moritz Piehler

Als das Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGDJ) im Jahr 1966 seine Pforten in einer Wohnung an der Rothenbaumchaussee in der Nähe des Hamburger Univiertels öffnete, geschah dies in erster Linie aus einem zivilgesellschaftlichen Engagement der Hamburger heraus. 50 Jahre später hat sich das Institut fest innerhalb der wissenschaftlichen Landschaft der Hansestadt etabliert und begeht sein Jubiläumsjahr mit zahlreichen Veranstaltungen, die über das gesamte Jahr verteilt sind.

Welchen Stellenwert die Arbeit des Instituts hat, war vor allem durch die Würdigung des Hamburger Senats zu spüren, der vergangene Woche ins Haus der Patriotischen Gesellschaft geladen hatte, um das 50-jährige Jubiläum zu feiern. Zur Einführung sprach Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank, die die Bedeutung des IGDJ für die Hansestadt betonte.

Digital Über die Jahre habe sich das Institut zu »einem der wichtigsten Standorte in der Erforschung der deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Geschichte entwickelt«, so Fegebank. Genau wie im Anschluss Institutsleiterin Miriam Rürup ging auch sie auf die bewegte Geschichte und die unsicheren Anfangsjahre mit der Entwicklung vom Nischenprojekt zur Stadtinstitution ein.

Seit den bescheidenen Anfängen hat sich die Arbeit des IGDJ sehr verändert und erweitert. Mittlerweile residiert man nicht mehr im beengten Raum einer Wohnung, in der sich am Ende die Bücher sogar in der Küche stapelten und kaum noch an ein Durchkommen zu denken war. Seit einigen Jahren ist das Institut in einem historischen Eckgebäude Am Schlump beheimatet, in dem einst Der Hauptmann von Köpenick gefilmt wurde. Institutsleiterin Miriam Rürup berichtet zum Jubiläum von den zahlreichen Herausforderungen, die auf das IGDJ in den kommenden Jahren warten.

Ein wichtiger Schwerpunkt liegt dabei natürlich auf der Weiterentwicklung der digitalen Möglichkeiten. Dazu gehört zum Beispiel, die originalen Quellentexte online für eine möglichst breite Öffentlichkeit verfügbar zu machen. So soll es vor allem Schülern und Studenten erleichtert werden, auf Originaltexte zuzugreifen. Die wissenschaftliche Forschung wird ebenfalls erheblich von dem Onlinearchiv profitieren, zumal die Quellen übersetzt und dann zweisprachig in deutscher und englischer Sprache digitalisiert und veröffentlicht werden.

Pfeiler Die Digitalisierung erfüllt direkt alle drei Kernbereiche des Instituts. Rürup definiert die wichtigsten Pfeiler ihrer Arbeit wie folgt: die Erinnerungskultur des jüdischen Erbes der Stadt, die wissenschaftliche Forschung und die Nachwuchsförderung. Gerade in der öffentlichen Wahrnehmung herrscht oft Unkenntnis über die Arbeit des IGDJ. In ihrer Ansprache kam Rürup immer wieder auf die Missverständnisse zurück, mit denen das Institut besonders in den Anfangsjahren zu kämpfen hatte. Anekdotisch erwähnte sie den Brief zweier Studentinnen, die den Standort des IGDJ partout nicht finden konnten und sich verzweifelt postalisch an den damaligen Institutsleiter wandten.

Ganz ernst ist es ihr aber mit der Ausrichtung ihrer Arbeit. Das IGDJ, das von außen häufig als eine Art »Verfolgtenforschung« eingestuft wird, widmet sich keineswegs nur der NS-Zeit. »Unser Anspruch ist es, das Leben der Hamburger Juden als eine 400 Jahre alte reichhaltige Geistesgeschichte zu betrachten«, betonte Rürup in ihrer Rede. Juden sollen nicht ausschließlich als Opfer und Verfolgte, sondern als handlungsfähige Akteure ihres eigenen Lebens gesehen werden. »Das jüdische Leben ist vielfältig, und genauso vielfältig ist auch die Forschung des Instituts.«

Für die Festrede war ein prominenter Gast aus den USA angereist. Marion Kaplan von der New York University gehört zu den bekanntesten Forscherinnen der Judaistik, aber noch wichtiger war in diesem Fall ihr sehr persönlicher Hamburg-Bezug, denn ihre erste Begegnung mit der Stadt liegt, wie der Zufall spielt, ebenfalls genau 50 Jahre zurück.

Migration Damals kam Kaplan zum Studium nach Deutschland. So berichtete sie von ihren Begegnungen mit dem Philosophen und Judaisten Heinz Mosche Graupe, dem ersten IGDJ-Leiter. Über das Institut veröffentlichte Marion Kaplan mehrere Publikationen, beispielsweise zur Rolle der Frauen im Judentum. In ihrer Festrede nahm sie Bezug sowohl auf die Relevanz von Hafenstädten in der Geschichte der jüdischen Flucht und Migration, als auch auf die Bedeutung der Alltagsgeschichte, die bis in unsere Zeit ausstrahle.

Aufgabe der Geschichtsforschung sei es, »einen ebenen Weg durch ein Gewirr aus Missverständnissen« zu ziehen, was das Verhältnis der nichtjüdischen und der jüdischen Deutschen angehe. Gerade dadurch erlangt das Institut auch nach seiner 50-jährigen Geschichte eine hohe Relevanz in Zeiten, in denen 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind.

Das Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGDJ)
wurde 1966 gegründet und ist die älteste (und lange Zeit einzige) Forschungseinrichtung in Deutschland, die sich ausschließlich mit der deutsch-jüdischen Geschichte beschäftigt. Schon 1953 entstand unter Vorsitz des Historikers Fritz Fischer eine Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der Hamburger Juden.

Im Unterschied zu anderen jüdischen Großstadtgemeinden, deren Archive 1939 von der Gestapo beschlagnahmt wurden, überdauerten die Aktenbestände der Hamburger jüdischen Gemeinden (Altona, Hamburg und Wandsbek) im Staatsarchiv der Hansestadt. Erster Direktor des IGDJ war Heinz Mosche Graupe, es folgten Peter Freimark, Monika Richarz, Stefanie Schüler-Springorum und seit 2012 Miriam Rürup.

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024